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den andern von Deutschland abgeschlossenen Aus-
lieferungsverträgen treten zu diesen Verbrechen noch
hinzu: Kindsmord, Abtreibung der Leibesfrucht,
Kindsaussetzung und Personenstandsverletzung,
Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruch, Bedro-
hung, Bigamie, Verbrechen gegen die Sittlichkeit,
schwere Körperverletzung, Bestechung öffentlicher
Beamten, Hehlerei, qualifizierte Sachbeschädigung,
Beschädigung von Eisenbahnen, Dampfmaschinen
und Telegraphen, Gefährdung von Eisenbahn-
zügen und unbefugte Bildung einer Bande in
der Absicht, Personen oder Eigentum anzugreifen,
ein dem jetzigen deutschen Strafrecht unbekanntes
Delikt. Die Bestrebungen der neuesten Theorie
gehen vor allem dahin, in den Auslieferungs-
verträgen und Gesetzen der einzelnen Staaten eine
Übereinstimmung über die einzelnen Auslieferungs-
verbrechen herbeizuführen. Bis jetzt fehlt diese
Übereinstimmung nicht nur in der Praxis, sondern
auch in der Theorie. Übereinstimmung herrscht
nur darüber, daß wegen der Verübung politischer
Verbrechen eine Auslieferung nicht statthaben
soll. Demgemäß bestimmen die Auslieferungs-=
verträge, daß sie auf solche Personen, die sich
irgend eines politischen Verbrechens schuldig ge-
macht haben, keine Anwendung finden. Auch darf
eine Person, welche wegen eines gemeinen Ver-
brechens und Vergehens ausgeliefert worden ist, in
demjenigen Staat, an welchen die Auslieferung
erfolgt ist, in keinem Fall wegen eines von ihr
vor der Auslieferung verübten politischen Ver-
brechens oder Vergehens, noch wegen einer Hand-
lung, welchemiteinem solchen politischen Verbrechen
oder Vergehen im Zusammenhang steht, zur Unter-
suchung gezogen und bestraft werden, es sei’denn
daß dieselbe, nachdem sie wegen des Verbrechens
oder Vergehens, welches zur Auslieferung Ver-
anlassung gegeben hat, bestraft oder endgültig frei-
gesprochen ist, während dreier Monate im Land
bleibt oder nach Verlassen desselben wieder in das-
selbe zurückkehrt. Doch soll der Angriff gegen das
Oberhaupt eines fremden Staats oder gegen ein
Mitglied seiner Familie weder als politisches Ver-
gehen noch als mit einem solchen in Zusammen-
hang stehend angesehen werden, wenn dieser An-
griff den Tatbestand des Totschlags, Mordes
oder Giftmordes erfüllt. Dieser letzte Satz ent-
stammt dem belgischen Gesetz vom 22. Mai 1856
(belgische Attentatsklausel). Die Niederlande lie-
fern wegen jeden Attentats gegen das Leben des
Souveräns oder der Mitglieder seiner Familie
aus. Nach den Auslieferungsverträgen zwischen
Rußland und Bayern und Hessen waren un-
gesetzliche Angriffe, durch welche ein Souverän
oder Mitglieder seiner Familie das Leben ver-
loren oder eine schwere Verletzung an Körper oder
Gesundheit erlitten haben, für politische Vergehen
nicht zu halten. England nimmt von der Aus-
lieferung aus „offences of a political or local
character“; es soll die Auslieferung verweigert
werden, wenn der ersuchte Staat das Verbrechen
Auslieferung.
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für ein politisches oder ein diesem konnexes hält,
oder wenn die auszuliefernde Person vor dem Be-
amten, welchem sie zur Vernehmung in dem der
Auslieferung vorhergehenden Verfahren übergeben
wurde, nachweist, daß die Auslieferungsforderung
gestellt wurde, um sie wegen eines Delikts poli-
tischen Charakters zu verfolgen und zu bestrafen.
Die Schweiz hat am 25. Juli 1848 selbst ihren
Kantonen untereinander die Auslieferung wegen
politischer und Preßvergehen untersagt. Berner
bemerkt zu der Frage: „Die politischen Verbrechen
muß man für wirkliche Verbrechen erklären, oder
man erklärt den Staat für rechtlos. Aber die Be-
griffe hierüber sind noch nicht konsolidiert; es
herrscht über das Politische noch durchaus keine
Gleichförmigkeit der Ansichten. Und während
einer solchen Entwicklungsperiode sei das politische
Asylrecht ein heiliges. Solange die Menschheit
noch nach den wahren Formen des Staatslebens
ringt, solange gewaltige Revolutionskämpfe die
Völker in Parteien spalten, deren eine immer die
andere zu Verbrechern stempelt, so lange kann na-
mentlich der fremde Staat den Märtyrer nicht
vom Verbrecher unterscheiden, so lange ist daher
auch das politische Asylrecht eine Wohltat, wie es
das fromme Asyl der Kirche war.“
Da die bestehenden Auslieferungsverträge neben
den zweifellos gemeinen Verbrechen nur einige
politische Verbrechen aufführen, welche unter
bestimmten Voraussetzungen den gemeinen Ver-
brechen gleich zu behandeln sind, so erwächst dar-
aus für die Theorie die schwierige Aufgabe, den
Begriff der politischen Delikte und den Begriff
der mit denselben konnexen Delikte aufzustellen,
wozu noch die belgisch-französische Unterscheidung
der delits connexes und complexes à des
délits politiques kommt. Bis jetzt ist weder eine
einheitliche Terminologie noch ein übereinstim-
mendes Unterscheidungsmerkmal zwischen gemeinen
und politischen Verbrechen erreicht worden. Die
einen finden den Unterschied im Objekt der Tat,
in dem durch die Handlung angegriffenen Rechts-
gut (v. Liszt), die andern in dem Motiv des
Täters, andere im Zweck, andere in dem Angriff
gegen die politische Ordnung des Staats aus
politischen Motiven zu dem Zweck, die Staats-
ordnung im ganzen oder in wesentlichen Teilen
zu ändern (Kasparek). Um aus den Schpwierig-
keiten herauszukommen, wird von v. Liszt vor-
geschlagen, die politischen Verbrechen in einem
Gesetz oder in den Verträgen namentlich und unter
Hinweis auf die betreffenden gesetzlichen Bestim-
mungen aufzuzählen (Enumerationsmethode — in
welchem Fall Lammasch noch den Meuchelmord als
Auslieferungsdelikt angesehen wissen will), wäh-
rend v. Holtzendorff nach englischem Beispiel der
Entscheidung von Fall zu Fall durch die Behörden
des Auslieferungsstaats den Vorzug gibt. Einen
Mittelweg schlägt das Institut de droit inter-
national (Oxforder Resolution 14) vor, indem
es einerseits zwar dem um Auslieferung ersuchen-