Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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dem allgemeinen Gerichtsverfassungs= oder Zu- 
ständigkeitsgesetz erfolgt oder einem besondern Ge- 
setz vorbehalten wird. Nach diesen Grundsätzen 
fallen verschiedene Gerichte, die man früher ohne 
Anstand für Ausnahmegerichte zu erklären sich für 
berechtigt erachtete, nicht unter diesen Begriff. Vor 
allem sind auszuscheiden die sog. außerordent- 
lichen, namentlich die früher so häufigen privi- 
legierten Gerichtsstände, die allerdings zum 
Teil infolge veränderter Anschauungen über 
Standesungleichheit und deren Folgen heutzutage 
nicht mehr berechtigt sind und deshalb einer ent- 
schiedenen Abneigung begegnen, zum Teil jedoch 
auf sehr guten Gründen beruhen. Man wird es 
gewiß in einem monarchischen Staat nicht unan- 
gemessen finden, wenn die Mitglieder der Regen- 
tenfamilie einen besondern Gerichtsstand haben. 
Selbst unter der Herrschaft der deutschen Zivil- 
prozeßordnung ist es noch zulässig, daß die Stan- 
desherren in den deutschen Staaten von ihren 
Standesgenossen gerichtet werden. Daß diese letz- 
teren Gerichte nur von Fall zu Fall zusammen- 
gesetzt werden, macht sie selbstverständlich so wenig 
zu Ausnahmegerichten, als die Schwurgerichte 
solche sind. Als Ausnahmegerichte können ferner 
nicht gelten sog. Staatsgerichtshöfe, welche 
für bedeutendere politische Verbrechen, für diese 
aber ganz allgemein gesetzlich eingeführt sind (z. B. 
die französische Charte von 1814 und die ihr 
nachgebildeten Verfassungen), ebensowenig be- 
sondere Gerichte zur Ausführung der Verfassungs- 
und Gesetzesbestimmungen über Ministerverant- 
wortlichkeit. Wenn in solchen Fällen statt beson- 
derer Gerichte die obersten Landesgerichte bestimmt 
werden, so liegt hierin selbstverständlich nur eine 
Zuständigkeitszuweisungund zugleich die Schaffung 
eines privilegierten Gerichts. Es ist dies jedoch 
so wenig die Errichtung eines Ausnahmegerichts, 
als die entgegen den regelmäßigen Bedingungen 
für Zuständigkeit über Preßvergehen urteilenden 
Schwurgerichte Ausnahmegerichte sind. Endlich 
können auch die sog. Spezialgerichtshöfe des 
früheren französischen Rechts nicht als Ausnahme- 
gerichte anerkannt werden, obgleich dieser Satz der 
allgemein in Frankreich und Deutschland herr- 
schenden Meinung widerspricht. Denn die Spe- 
zialgerichtshöfe sind gesetzlich eingesetzt für be- 
stimmte Verbrechen und für genau bezeichnete Ver- 
gehen, und zwar allgemein und für die Dauer, 
nämlich für Landstreicher und Rückfällige und für 
Empörungen mit Waffengewalt, bewaffneten 
Schleichhandel, Münzfälschung, Angriffe auf das 
Leben durch bewaffnete Zusammenrottung. Auch 
läßt sich nicht gerade behaupten, daß bei der Er- 
richtung der Spezialgerichtshöfe Grundsätze un- 
beachtet blieben, auf welchen jede Rechtspflege in 
zivilisierten Staaten beruht. Höchstens könnte 
man in dieser Beziehung die Verstärkung der ur- 
teilenden Richter durch drei Militärs, in der Regel 
Gendarmerieoffiziere, beanstanden, weil diese Be- 
amtenklasse sich nach allgemein gültigen Begriffen 
Ausnahmegerichte. 
  
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mehr zur Verfolgung als zur Aburteilung von 
Verbrechen eignet. Auch läßt sich vielleicht der 
politische Hintergedanke, welcher bei Errichtung 
von Spezialgerichtshöfen maßgebend war, für 
deren Zuteilung zu den Ausnahmegerichten ver- 
werten, obgleich diese Rücksicht in den über diese 
Gerichte geltenden Bestimmungen ihren Ausdruck 
nicht gefunden hat. Tatsache ist indessen, daß 
man in Frankreich die Spezialgerichtshöfe so all- 
gemein als Ausnahmegerichte betrachtete, daß man 
nach dem Sturz Napoleons in die Charte von 
1814 den Satz: nul ne pourra etre distrait de 
ses iuges naturels (Art. 62), in der ausge- 
sprochenen Absicht aufnahm, deren Beseitigung 
unter den Schutz der Verfassung zu stellen, obgleich 
ihre Eigenschaft als gesetzlich bestellte Gerichtshöfe 
nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Ver- 
schiedene deutsche, der französischen Charte nach- 
gebildete Verfassungsurkunden nahmen indessen 
jenen Artikel ebenfalls auf, obwohl die Spezial- 
gerichtshöfe in deren Geltungsbereich ganz unan- 
getastet bestehen blieben. 
Zweifellose Ausnahmegerichte sind diejenigen 
Gerichte, welche zur Aburteilung einzelner oder 
aller vorkommenden Verbrechen nach Verkündigung 
des Standrechts oder der Verhängung des 
Belagerungszustands bestimmt sind. Das 
Standrecht pflegt dann angeordnet zu werden, 
wenn in einem Bezirk einzelne bestimmte Ver- 
brechen derart überhandnehmen, daß außerordent- 
liche Maßregeln zu deren Unterdrückung notwendig 
erscheinen, während der Belagerungszustand in 
dem Fall verhängt zu werden pflegt, wenn sich 
das Land oder ein Teil desselben förmlich zu 
empören droht oder gar schon empört hat. Die 
Gerichtsbarkeit geht in einem solchen Fall all- 
gemein oder für bestimmt bezeichnete Verbrechen 
an die Kriegsgerichte über. Ausnahmegerichte 
waren ferner die in verschiedenen deutschen Staa- 
ten (Preußen, Hessen) hauptsächlich zum Zweck 
der Amtsentsetzung von Bischöfen und Pfarrern 
errichteten sog. kürchlichen Gerichtshöfe, weil 
mit diesen Behörden der Staat Eingriffe in ein 
Gebiet machte, über welches ihm ein Verfügungs- 
recht nicht zusteht. Gleichgültig ist dabei, ob ein 
besonderer kirchlicher Gerichtshof errichtet oder ob 
eine andere Behörde (das oberste Landesgericht) 
mit den Befugnissen desselben betraut wurde. 
Zu allen Zeiten sind im Leben der Staaten 
Verhältnisse eingetreten, welche die Errichtung 
von Ausnahmegerichten notwendig oder erklärlich 
machten. Wir finden deswegen in den meisten 
Staaten Ausnahmegerichte zu gerechtfertigten und 
zu verwerflichen Zwecken. In letzterer Beziehung 
sind es namentlich politische und religiöse Rück- 
sichten, hie und da verbunden mit der Absicht 
des Gelderwerbs (durch Vermögenseinziehungen), 
welche den Mißbrauch der Justiz für unerlaubte 
Zwecke veranlaßten. Ausnahmegerichte kommen 
vor in der römischen Republik während der Dauer 
der alle sonstigen Gewalten aufhebenden Diktatur, 
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