Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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während der inneren Kämpfe in Frankreich und 
England, bis zu den Revolutionstribunalen in 
dem ersteren Land. Am seltensten waren sie in 
Deutschland, wohl aus dem Grund, weil die 
Reichsgerichte die durch sie veranlaßte Beschrän- 
kung ihrer Zuständigkeit nicht gerne sahen und 
ihr entgegenarbeiteten. Gesetzliche Bestimmungen 
über Ausnahmegerichte findet man in dem öster- 
reichischen St. G. B. von 1803 Tl I, H. 16 (jetzt 
Strafprozeßordnung von 1873 Hpist. 25) und 
in dem französischen Dekret vom 26. Dez. 1811 
über den Kriegszustand. Auch Preußen hat ein 
besonderes Gesetz über den Belagerungszustand 
vom 4. Juni 1851. Ahnliche Bestimmungen 
finden sich in Oldenburg (Verfassungsurkunde 
von 1852, Art. 54), Baden (Gesetz vom 29. Jan. 
1851), Bayern (St.G. B. von 1813, Art. 441). 
Waldeck (Verfassungsurkunde von 1852, Art. 96). 
Endlich hat die deutsche Reichsverfassung in Ar- 
tikel 68 das Recht des Kaisers auf Verhängung 
des Kriegszustands einstweilen nach Maßgabe des 
oben erwähnten preußischen Gesetzes anerkannt. 
Ob die Einsetzung eines Ausnahmegerichts 
als gerechtfertigt zu erachten sei, hängt lediglich 
von der Lage des einzelnen Falls und den ihn 
begleitenden Umständen ab. Solange Staaten 
bestehen, wird es nicht zu vermeiden sein, daß sich 
zu bestimmten Zeiten einzelne schwere Verbrechen 
in der Art vermehren, daß die gewöhnlichen Ge- 
richte zur Unterdrückung derselben nicht mehr aus- 
reichen. Auch wird sich von Zeit zu Zeit, nament- 
lich nach unglücklichen Feldzügen und dadurch 
bewirkten politischen Veränderungen, die allgemeine 
Aufregung der Gemüter in einer Weise steigern, 
daß schwere Beschädigungen des Staatswohls, 
ja der Zusammenbruch der Staatsverfassung und 
der Untergang des Staates zu befürchten sind. 
Wenn in solchen Fällen die Regierungsgewalt nach 
reislicher Uberlegung, von der besten Absicht ge- 
leitet, unter Wahrung der gesetzlichen Erforder- 
nisse, Ausnahmegerichte einsetzt und sie nach er- 
reichtem Zweck wieder beseitigt, wird man auch 
von dem Standpunkt der politischen Freiheit 
gegen ein solches Vorgehen nichts einwenden 
können. Werden aber Ausnahmegerichte zum 
Zweck der Befriedigung der Habsucht (wie in 
früheren Zeiten öfters), der Herrschsucht oder im 
politischen Parteiinteresse errichtet, so sind sie un- 
bedingt verwerflich. Ausnahmegerichte der am 
meisten zu vermeidenden Art sind solche, welche 
zum Zweck der unberechtigten Erweiterung der 
staatlichen Rechte und des staatlichen Einflusses 
auf ein Gebiet, auf welchem dem Staat die Zu- 
ständigkeit fehlt, das kirchliche, eingesetzt werden, 
da in einem solchen Vorgehen der politische Druck 
zugleich mit dem religiösen empfunden wird. 
Solche Gerichte finden in den Grundlagen des 
Rechts ihre Rechtfertigung nie, selbstverständlich 
auch dann nicht, wenn sie unter Wahrung aller 
positiv gesetzlichen Formvorschriften zustande ge- 
kommen sind; denn sie widerstreiten den Grund- 
Ausnahmegesetze. 
  
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sätzen, auf denen eine jede Rechtspflege beruhen 
muß. Franck.)] 
Ausnahmegesetze. Ausnahmerecht und 
gemeines Recht können insbesondere unter zwei 
Gesichtspunkten einander gegenübergestellt werden: 
erstens unter dem Gesichtspunkt der Art ihrer 
Entstehung, zweitens ihrem Inhalt nach. Das 
Verhältnis der Ausnahme zur Regel kann in der 
Form der Entstehung hervortreten, wenn das Ge- 
setz nicht auf dem regelmäßigen Weg entstand; 
es kann in dem Inhalt hervortreten, wenn die 
betreffende Bestimmung materiell eine Abweichung 
vom geltenden Recht enthält. Diese beiden Arten 
von Ausnahmegesetzen schließen sich nicht aus. Eine 
und dieselbe Norm kann Ausnahmegesetz nach 
beiden Richtungen hin sein. 
I. Ausnahmeartige Gesetze mit Rücksicht auf 
das Zustandekommen. 1. Von Ausnahme- 
gesetzen der ersten Art, von Notgesetzen, Notver- 
ordnungen, spricht man in jenen Fällen, wo 
Normen nicht auf dem gewöhnlichen, gesetz- 
lichen, verfassungsmäßigen Weg zustande kommen, 
sondern infolge außerordentlicher Bevollmächti- 
gung der obersten Staatsgewalt, in konstitutionell- 
monarchischen Staaten ohne Mitwirkung der 
Volksvertretung, vorbehaltlich der Genehmigung 
derselben, einseitig von der Regierung erlassen 
werden. Es kann z. B. infolge eines außer- 
gewöhnlichen Notstandes die öffentliche Sicherheit 
nicht anders aufrecht erhalten werden als durch 
schleuniges Einschreiten der Gesetzgebung und so- 
fortigen Erlaß eines Gesetzes. Das Ausnahme- 
verhältnis liegt bei solchen Verordnungen mit 
provisorischer Gesetzeskraft darin, daß entgegen 
dem Grundsatz der konstitutionellen Staatsord- 
nung, wonach der Monarch eine allgemein ver- 
bindliche Rechtsvorschrift nur mit vorgängiger 
Zustimmung der Volksvertretung erlassen kann, 
eine Verordnung des Staatsoberhauptes Gesetzes- 
macht erlangt, obwohl dem darin normierten 
Stoffe nach zur Gesetzeskraft desselben die sonst 
normale Mitwirkung eines neben dem Staats- 
oberhaupt stehenden Organs erforderlich wäre. 
2. Dabei sind zwei Fälle denkbar. Erster Fall: 
Der Ausnahmezustand ist in der Verfassung vor- 
gesehen. Das erwähnte Vorgehen kann ein eigen- 
mächtiges oder eine von der Verfassung selbst 
sanktionierte Handlung des Gewalthabers sein. 
Der Verfassung zufolge kann das Staatsoberhaupt 
unter gewissen Voraussetzungen von der Beob- 
achtung der Regel entbunden und der Krone 
durch das Gesetz ausdrücklich eine solche Befugnis 
eingeräumt sein. So gewähren sehr viele deutsche 
Verfassungen (z. B. die preußische von 1850 in 
Art. 63) den Regierungen das Recht, Gesetze zu 
suspendieren und unter Umständen Verordnungen 
mit Gesetzeskrast zu erlassen, und entziehen höch- 
stens die Suspension von Bestimmungen der Ver- 
fassungsurkunde selbst oder auch von einzelnen 
bestimmt bezeichneten Gesetzen diesem außer- 
ordentlichen Verordnungsrecht. Man 
 
	        
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