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gesetz und gemeines Recht einander gegenüberstellen,
wenn nicht die Genesis, die Art des Zustande-
kommens, sondern der Inhalt der Normen ins
Auge gefaßt wird. Es gibt im regulär zustande
gekommenen, allgemein anerkannten Recht Be-
stimmungen, die eine Ausnahme von sonst gül-
tigen Regeln enthalten. In diesem Sinn heißt
Ausnahmegesetz eine gesetzliche Bestimmung, die
einer andern ihrem Inhalt nach im Verhältnis
der Ausnahme zur Regel gegenübersteht: regel-
widriges, singuläres, anomales, im Gegensatz zu
regelmäßigem Recht (ius singulare — ius com-
mune). Jedes positive Recht geht von Grund-
sätzen (Rechtsprinzipien) aus, welche durch die
Weise, wie es den Rechtsbegriff auffaßt, gebildet
werden. Diese Prinzipien und ihre Konsequenzen
bilden das ius commune, das grundsätzliche, prin-
zipielle, konsequente Recht, d. h. den Inbegriff der
Rechtssätze, welche der ratio iuris, dem tenoriuris,
d. h. eben dem Rechtsbegriff, wie ihn das posi-
tive Recht auffaßt, entsprechen. Hie und da aber
macht das positive Recht gleichsam einen Bruch in
das, was aus seinen Prinzipien folgen soll. Es
beruht somit die bei weitem überwiegende Masse
von Rechtssätzen auf logischer und analogischer
Fortentwicklung der Grundbegriffe des betreffen-
den Rechts; ein immerhin noch beträchtlicher Teil
aber ist außer diesem System der Hauptmasse und
gegen dasselbe in Geltung gekommen — ein be-
trächtlicher Teil, denn es wird z. B. wenig Ver-
bote oder Gebote ohne irgend welche Ausnahme
geben. Schon die allgemeinen Gründe aufgeho-
bener Rechtswidrigkeit, wie Notwehr, Notstand,
bindender Befehl, stellen sich als ebensoviele all-
gemeine, d. h. alle Normen durchbrechende Aus-
nahmen derselben dar.
2. Relativität des Ausnahmerechts. Da die
Grundprinzipien verschiedener Rechtssysteme —
bis zu einem gewissen Grad — verschieden sind, ist
auch das Verhältnis von Regel und Ausnahme,
das sich danach richtet, ein verschiedenes. Es ist
relativ in Bezug auf verschiedene Rechtssysteme,
relativ in Bezug auf die Entwicklungsphasen ein
und desselben Rechts (b), relativ sogar in ein
und demselben gegebenen positiven Recht (a).
a) Ein Rechtssatz nämlich, für sich betrachtet,
ist weder konsequent noch inkonsequent; entschei-
dend ist sein Verhältnis zu einem höheren Rechts-
satz, je nachdem er eine Anwendung dieses letzteren
ist oder ihm ausnahmeartig gegenübersteht. Ein
Rechtssatz kann nach der einen Seite Regel, nach
der andern Ausnahme sein, oder mit andern
Worten: das Ausnahmerecht hat selbst wieder
seine ratio und kann in seiner konsequenten An-
wendung durch eine Ausnahme unterbrochen wer-
den, die dann durchaus nicht immer (wieder) mit
dem gemeinen Recht zusammenfallen muß. —
b) Das Verhältnis von Ausnahme und Regel ist
ferner relativ in geschichtlicher Hinsicht, es ist
in ein und demselben Recht nicht immer gleich
und unverändert geblieben. Manches z. B., was
Ausnahmegesetze.
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lange durch Privilegium (s. unter Nr 3) geregelt
wurde, kann allmählich der Reglung durch ius
singulare oder gar durch ius commune unter-
worfen werden. Ein Sat, der ursprünglich gegen
die Grundprinzipien und Ursatzungen ausgekom-
men, kann sich zu einer Ursatzung emporringen.
Umgekehrt, was in einem gegebenen Zeitpunkt
normales Recht war, kann im Lauf der Zeit
anomales Recht werden, Man denke an das
ursprünglich ganz normale Recht adliger Steuer-
freiheit. In dieser Hinsicht scheint das ius sin-
zulare den Weg zu bilden, auf dem Rechtssysteme
ineinander übergehen. Die Trümmer der alten
deutschen Rechtszustände mit ihren scharf aus-
geprägten Ständerechten fanden in der Zeit des
Absolutismus notdürftig, d. h. soweit dieser sie
überhaupt anerkannte, im ius singulare Zuflucht
und wurden — gewiß nicht ohne Mitschuld der
Beteiligten — nur mehr als Sonderrechte oder
gar als Privilegien geduldet. Der im jus singu-
lare enthaltene Rechtsstoff war in jener Zeit so
überwiegend identisch mit dem Recht einzelner
Klassen (Klerus, Adel, Bürger, Bauer), daß die
ältere Theorieius singulare geradezu mit „Stände-
recht“ identifizierte. Heutzutage sind die Stände
der Rechtsgeschichte zugewiesen und die „Privi-
legien“ der Immunität der Geistlichkeit, des be-
sondern Gerichtsstands des Adels, der Gewerbe-
monopole usw. gefallen. Nur Beamte und Mili-
tär, diese jüngeren, erst mit dem Absolutismus
gediehenen Stände, erfreuen sich noch eines ge-
wissen ius singulare.
3. Arten des Ausnahmerechts. Ausnahme-
oder Sonderrecht (äus singulare) und Privi-
legium (im weiteren Sinn) werden oft gleich-
wertig gebraucht. Es empfiehlt sich jedoch, den
Unterschied festzuhalten, ob das anomale Recht
Ausnahmen für alle Individuen, falls sie sich in
einer bestimmten Lage befinden, oder doch für ge-
wisse Kategorien von Individuen und Verhält-
nisse (ius singulare) oder nur für konkrete Ver-
hältnisse einzelner Individuen statuiert (privile-
gium im engeren Sinn). Es verhalten sich nämlich
die Privilegien zum ius singulare gleichwie in-
dividuelle Ausnahmen von der Rechtsordnung
zu Ausnahmeregeln. Privilegium im objektiven
Sinn (lex specialis) ist demnach eine spezielle
Anordnung der Gesetzgebung oder des hierzu von
ihr berufenen Organs, wodurch, abweichend von
jenen Rechtssätzen, die ohnedies einzutreten hätten,
ein individuelles Rechtsverhältnis geregelt wird.
Privilegium im subjektiven Sinn sodann ist das
unter Abweichung von allgemeinen Rechtsregeln
begründete Recht bestimmter Individuen dem Staat
oder andern Staatsbürgern gegenüber. Sachlich
pflegt man die Ausnahmebestimmungen einzuteilen
in besondere Begünstigungen oder besondere Be-
schränkungen, je nachdem sie aus besonderer Für-
sorge oder besonderer Mißgunst hervorgehen.
Zu den ersteren gehören die sog. Rechtswohl-
taten (privilegia favorabilia), zu den letzteren