Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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abhängigen unselbständigen Arbeitermassen kön- 
nen, wenn ein gewisser Sättigungsgrad erreicht ist, 
nur zu leicht eine fluktuierende Fremdbevölkerung 
bilden, deren politische und geistige Interessen sich 
mit der neuen Heimat wenig verknüpfen und die 
in Zeiten wirtschaftlicher Krisen eine schwere Last 
werden kann. Es muß dann an das Einwande- 
rungsland die Aufgabe herantreten, den fremdlän- 
dischen Zustrom einer Kontrolle und Beschränkung 
zu unterwerfen, wie des näheren noch unter dem 
Abschnitt „Einwanderung“ zu erörtern sein wird. 
II. Auswanderungsrecht und Auswan- 
derungspolitist. Das römische Recht kennt das 
Recht des Freien auszuwandern. Das mittel- 
alterliche Feudalsystem belegte den Wegzug des 
Hörigen (glebae adscriptus) meist mit der Todes- 
strafe. Auch für den Nichthörigen war die Ab- 
wanderung in ein Gebiet, das einer andern landes- 
herrlichen Gewalt unterstand, teils ganz verboten 
teils von der Zustimmung des Landesherrn ab- 
hängig gemacht. Die Auswanderung mußte durch 
Zurücklassung eines Teils der Habe erkauft werden. 
Man ging dabei von der Auffassung aus, daß der 
Heimatsstaat einen Ersatz für die dem Auswan- 
derer geleisteten Dienste zu fordern berechtigt sei, 
ließ aber außer acht, daß der Emigrant bis zum 
Augenblick seines Fortgangs auch die Lasten des 
Staats getragen hat. Die erhobene Nachsteuer 
(Sabella emigrationis, detractus personalis) 
war zuerst als Ausfluß der Vogtei= und Schutz- 
herrlichkeit, später als Regal, das aber auch dem 
Patrimonialherrn zustehen konnte, ganz allgemein, 
und ihr Betrag schwankte zwischen dem 20. und dem 
3. Teil des Gesamtvermögens. Auch von den ins 
Ausland gehenden Erbschaften wurde eine Abgabe 
(Abschoß, gabella hereditaria) erhoben. Die 
Reichstagsabschiede von 1555 und 1594 bestätigen 
ausdrücklich die Zulässigkeit der Abwanderung 
gegen Entrichtung der Nachsteuer. Im Westfä- 
lischen Frieden (1648) wurde allen, die nicht 
dartun konnten, daß in dem sog. Normaljahr 
(1624) an ihrem Wohnort freie Religionsübung 
geherrscht habe, die Auswanderung gegen Ent- 
richtung der Nachsteuer gestattet. Der auf mer- 
kantilistischen Grundsätzen aufgebaute nachmittel- 
alterliche Polizeistaat brachte die Auswande- 
rungsverbote. In Preußen verbot z. B. 
Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1721 jede Aus- 
wanderung, während er die Verleitung eines 
Bauern zu derselben mit Todesstrafe bedrohte und 
auf die Einfangung eines Emigranten eine Beloh- 
nung bis zu 200 Talern setzte. In Kurbayern wurde 
noch 1764 unbefugten Auswanderungsagenten 
der Galgen angedroht und die Auswanderung bei 
Strafe der Vermögenskonfiskation verboten. Die 
Bewegung, welche zur Publikation der Menschen- 
rechte im Jahr 1789 führte und welche eine heil- 
same Reaktion gegen die Allgewalt des Polizeistaats 
darstellte, kam auch der Auswanderungsfreiheit zu- 
gut. Und in der Tat, sobald man den Menschen 
in richtiger Weise in seinem Verhältnis zum Staat 
Auswanderung. 
  
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auffaßt, sobald man sich darüber klar wird, daß 
das Wohl des Volks der Zweck des Staates ist, 
nicht aber die Macht der Gewalthaber um ihrer 
selbst willen, so kann man, mag man immer aus 
der Rücksicht auf das Gemeinwohl die Berechti- 
gung der öffentlichen Gewalt zu bedeutender Ein- 
schränkung der persönlichen Freiheit ableiten, doch 
nie dazu gelangen, die wesentlichen Rechte des Men- 
schen zu negieren. Zu diesen gehört aber offenbar 
die Freiheit, sich seiner geistigen und körperlichen 
Veranlagung gemäß seinen dauernden Aufenthalts- 
ort zu wählen. Schon das preußische Allgemeine 
Landrecht vom Jahr 1794 gestattete die Auswan- 
derung, wenn es auch nach vorhergehender Anzeige 
Einholung der Erlaubnis und in der Regel auch 
Entrichtung des vorerwähnten Abfahrtsgeldes ver- 
langte. In Bayern wurde 1801 die Auswanderung 
insoweit gestattet, als die Entscheidung über jeden 
einzelnen Fall dem obrigkeitlichen Ermessen vor- 
behalten war. Die Deutsche Bundesakte setzte fest, 
daß die Entlassung aus dem Untertanenverband 
nicht verweigert werden könne, wenn ein anderer 
Bundesstaat bereit sei, den Betreffenden als Unter- 
tan aufzunehmen; sie beseitigte ferner die Nach- 
steuer für den Fall, daß das Vermögen an einen 
andern Bundesstaat überging. Durch Bundes- 
beschluß vom 23. Juni 1817 wurde auch der Ab- 
schoß aufgehoben. Die Ereignisse des Jahrs 1848 
führten endlich dazu, daß die deutschen Staaten 
überhaupt den Grundsatz, daß jeder Staatsbürger, 
dem nicht besondere Hindernisse entgegenstehen, 
das Recht habe, auszuwandern, offen anerkannten 
und in die Landesverfassung aufnahmen. Seit- 
dem besteht in Deutschland das Recht der Aus- 
wanderungsfreiheit, das nur vorwiegend im 
Interesse der Wehrpflicht Beschränkungen unter- 
liegt. Der Umschwung in der staatlichen Auswan- 
derungspolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. 
war aber nicht allein eine Folge des sich zu grö- 
ßerer Geltung durchringenden Rechts der freien 
Persönlichkeit und der Beseitigung vieler die Be- 
tätigung des Individuums hemmenden Fesseln im 
Staats= und Wirtschaftsleben, auch die infolge der 
Malthusschen Lehren fast allgemein verbreitete 
Furcht vor der Übervölkerung und den zunehmen- 
den Armenlasten bewog vielfach die Behörde, die 
Auswanderungnicht nur freizugeben, sondern sogar 
möglichst zu fördern, ja oft geradezu durch Ge- 
währung von Reisegeld u. dgl. die notleidenden 
Bauern und Handwerker aus dem Land hinaus- 
zutreiben. Einzelne deutsche Staaten waren so 
aus einem Extrem in das andere gefallen. 
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes 
bzw. des Deutschen Reichs erklärte die „Aus- 
wanderung nach außerdeutschen Ländern“ für einen 
Gegenstand der Bundes= bzw. Reichsgesetzgebung. 
Abgesehen von der Einsetzung von Reichskommis- 
saren für das Auswanderungswesen in Hamburg 
und Bremen und einzelnen das Auswanderungs- 
recht betreffenden Bestimmungen im Paßgesetz vom 
12. Okt. 1867 und im Gesetz über die Staats-
	        
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