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Emigrants Information Office, eine halbamt-
liche Abzweigung des britischen Kolonialamts.
In Italien ist das Auswanderungswesen
durch das Gesetz vom 31. Jan. 1901 und mehrere
auf diesem Gesetz beruhende Verordnungen neu
geregelt. Es besteht ein Generalauswanderungs-
kommissariat, dessen Chef für Erteilung, Beschrän-
kung und Entziehung von Unternehmerkonzessionen
zuständig ist. Für die Interessen des Auswande-
rungswesens besteht ein Auswanderungsfonds, der
durch Beiträge der Schiffahrtsgesellschaften (8 Lire
pro Auswanderer) unterhalten wird. Die Aus-
kunftserteilung ist Sache des Generalkommissariats
und erfolgt allgemein (weniger an einzelne Per-
sonen) durch Zirkulare sowie eine Monatsschrift
mit Hilfe der Presse. Auch in den Bestimmungs-
ländern befinden sich mit Einverständnis der
Landesregierungen geschaffene Schutz= und Infor-
mationsbureaus.
Von den andern bedeutenderen europäischen
Staaten besitzt nur Rußland keine besondere Aus-
wanderungsgesetzgebung. Anregungen zur inter-
nationalen Reglung des Auswanderungs-
wesens wurden namentlich vom Institut de droit
international gegeben (vgl. Annuaire de l’Insti-
tut XVII1897 u. XXL1904.). Einzelne inter-
nationale Vereinbarungen, die mit dem Auswan-
derungswesen in Verbindung gebracht werden
können, wie z. B. über Niederlassungsverträge,
über den Mädchenhandel usw., sind zwar erfolgt,
eine einheitliche internationale Reglung der
gesamten Materie dürfte aber bei der Verschieden-
artigkeit der Verhältnisse und dem Widerstreit der
Interessen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten
sein. Eine internationale Konferenz zur gemein-
samen Beratung der Probleme der Ein= und Aus-
wanderung empfiehlt auch der amerikanische Ein-
wanderungskommissar im Jahresbericht 1907.
III. Geschichte und Statistik. 1. Alter-
tum und Mittelalter. Schon die uralten
Urkunden menschlicher Entwicklung, welche uns
das Alte Testament bietet, zeigen uns Auswande-
rungen, vornehmlich Zwangsauswanderungen, die
auch sonst im Altertum nicht vereinzelt dastehen.
Sie sind ebenso wie die freiwilligen Auswan-
derungen Massenauswanderungen eines ganzen
Volks oder eines Volksteils; die Sicherheit gegen-
über den Angriffen fremder Völker, die Recht-
losigkeit des einzelnen Fremden, die schlechten Ver-
kehrsverhältnisse, die Unkenntnis fremder Länder
usw. zwangen dazu. Die Auswanderungen führ-
ten meist zu staatlichen Neubildungen und zur
Gründung von Kolonien, deswegen deckt sich auch
vielfach die Geschichte der Auswanderung mit der
Kolonialgeschichte.
Einen besondern Ausschwung nahm die Aus-
wanderung in der griechischen Welt. Wäh-
rend sich die Jonier nach Osten wandten, strömten
Dorier, Lokrer, Messenier und Korinther nach
Unteritalien und Sizilien. Politische Unzufrieden-
heit, Handelsinteressen, Unternehmungslust usw.
Staatslexikon. I. 3. Aufl.
Auswanderung.
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waren die Beweggründe. Die hohe Bedeutung
der griechischen Auswanderung liegt vor allem
darin, daß sie das griechische Volkstum nicht nur
erhalten, sondern reich entwickelt und im vater-
ländischen Geist ausgebildet hat. Der Grieche,
welcher die wenig ausgedehnte Heimat verließ,
fand nicht nur Aussicht auf Fortkommen in zahl-
reichen blühenden Städten, sondern auch die Ge-
währleistung der Bewahrung seiner Nationalität.
In sehr verschiedener Weise, wenn auch stets in
der Form der Koloniengründung, entwickelte sich
die Auswanderung im römischen Staat. Die-
selbe führte zahlreiche Angehörige der römischen
Nationalität, besonders ausgediente Soldaten,
in die Provinzen. Die Koloniengründung und
die Übersiedlung von römischen Bürgern und
Veteranen erscheint als staatliche Angelegenheit.
Die italische Auswanderung wandte sich nach
allen Teilen des römischen Reichs, nach dem
Schwarzen Meer, nach Griechenland, nach Afrika
und namentlich nach Gallien. Man wurde so das
durch die Kapitalsübermacht, die Latifundienbil-
dung und die Sklavenwirtschaft gezeitigte unruhige
Proletariat los, schuf auf diese Weise in den Pro-
vinzen des weiten Reichs einen zahlreichen Bauern-
stand, verbreitete römische Bildung, römisches
Recht und römische Sprache und trug mächtig zur
nationalen Verschmelzung der Unterworfenen mit
den Eroberern bei. Man darf diese Assimilierung
der verschiedenen nationalen Individualitäten,
die nur durch den großartigen Umfang der ita-
lischen Auswanderung zu erklären ist znach Nomm-
sen siedelte Cäsar binnen wenigen Jahren 80 000
Kolonisten in transmarinen Gegenden an), als
ein Moment von höchster weltgeschichtlicher Be-
deutung erklären. Sie durchbrach die begrenzte
antike Anschauungsweise, welche den Menschen in
seiner Nationalität aufgehen ließ, und hat die Aus-
breitung des Christentums dadurch wesentlich er-
leichtert.
Die Völkerwanderung ist eine Summe
von Massenwanderungen vorwiegend germanischer
Stämme zu Eroberungszwecken. Die kriegstüch-
tigen Barbaren drangen in die reichen Gefilde des
alternden Römerreiches ein, das infolge des Pau-
perismus der Massen sich entvölkerte, immer wehr-
loser und ein willkommenes Objekt der Besitz-
ergreifung wurde. Bis zum Ende des 11. Jahrh.
wird dann die mittelalterliche Emigration haupt-
sächlich durch die Normannen repräsentiert. Mit
den Kreuzzügen beginnt eine allgemeine Aus-
wanderungsbewegung der europäischen Völker von
Westen nach Osten. Auch die deutsche Ostgrenze
wird von zahlreichen Auswanderern überschritten.
Im Mittelalter vollzog sich auch schon eine Aus-
wanderung, die nicht völkerschaftlich und staaten-
bildend vor sich ging, sondern Scharen von Aus-
wanderern nach den östlich an Deutschland gren-
zenden Staaten, nach Polen, Böhmen, Ungarn
und Siebenbürgen, führte, wo die deutschen Ein-
wanderer den größten Einfluß auf die Kultur
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