Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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wanderungspolitik den weiteren Zustrom 
neuer Ankömmlinge möglichst zu fördern suchen. 
Ein Systemwechsel muß aber eintreten, wenn die 
Einwanderung in solchen Massen erfolgt, daß eine 
Gefahr für die nationale oder wirtschaftliche Stel- 
lung der einheimischen Bevölkerung entsteht oder 
unwillkommene Elemente, wie Revolutionäre, voll- 
ständig Mittellose usw., das Hauptkontingent der 
Einwanderung bilden. Nach den Grundsätzen des 
modernen Völkerrechts kann die Einwanderung 
von Angehörigen der zur Völkergemeinschaft ge- 
hörenden Staaten nicht verboten werden, doch darf 
jeder Staat den Eintritt in sein Gebiet denjenigen 
Personen versagen, die für die Sicherheit und 
Ordnung im Innern wie nach außen gefährlich 
werden können. Der Staat kann also zu Einwan- 
derungsbeschränkungen greifen, dagegen allgemeine 
Einwanderungsverbote nur gegenüber Angehörigen 
eines zur Völkerrechtsgemeinschaft nicht gehörenden 
Landes erlassen. 
Von internationaler Bedeutung ist namentlich 
die Einwanderungspolitik der Vereinigten 
Staaten von Amerika geworden. Wie schon er- 
wähnt, überwog hier unter den Einwanderern bis 
Anfang der 1890er Jahre bei weitem das stamm- 
verwandte germanische Element. Seitdem wird der 
größte Anteil am Fremdenzustrom, der zudem den 
früheren noch bei weitem übertrifft, von Italienern, 
Slawen und Ungarn gestellt. Im Berichtsjahr 
1906/07 (Juli bis Juli) betrug z. B. die Gesamt- 
ziffer aller Einwanderer in die Union 1 285 349 
(1905/06: 1100 735); davon kamen auf Eu- 
ropa 1199566 Personen, und zwar entfielen da- 
von auf Osterreich-Ungarn 338 452 (1905/06: 
265 138), auf Italien 285 731 (190 5/06: 
273120), auf Rußland 258 943 (1905/06: 
215 665). Diese drei Länder liefern also ½ der 
Gesamtzahl. Deutschland gab in der gleichen Zeit 
nur 37 801 (1905/06: 37 564), Irland 34 530 
(1905/06: 34 995) Personen an die Union ab. 
Es wird nun befürchtet, daß die amerikanische Na- 
tion so große Personenmassen fremder Nationa- 
lität, die auf niedriger Kulturstufe stehen (unter 
den Auswanderern aus Osterreich-Ungarn waren 
1904 25%, unter denen aus Rußland 27%, 
unter denen aus Italien 47% , unter der Gesamt- 
einwanderung 1906/07 30% Analphabeten), die 
an eine auf freiheitlicher Grundlage aufgebaute 
Staatsverfassung nicht gewöhnt sind, die die Lan- 
dessprache nicht sprechen und auch sehr schwer er- 
lernen, die ihre Stammeszugehörigkeit schwer auf- 
geben, nicht zu assimilieren vermag. Dazu kommt 
noch, daß durch die Einwanderung großer Massen 
ungelernter Arbeiter das Lohnniveau und die Le- 
benshaltung der amerikanischen Arbeiterbevölkerung 
herabgedrückt wird. Anderseits steht aber wieder- 
um fest, daß die Union die ständige Zufuhr frischer 
Kräfte mit starker Fortpflanzung nicht entbehren 
kann, wenn sie ihre wirtschaftliche und politische 
Stellung behaupten und befestigen will, und daß 
sie da, nach dem Rückgang der germanischen und 
Auswanderung. 
  
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angelsächsischen Einwanderung, vorwiegend auf 
die romanische und slawische Rasse angewiesen ist. 
Auch werden diese fremden Arbeitskräfte für die 
zahlreichen Erd= und Eisenbahnarbeiten gebraucht, 
für die sich Amerikaner nicht hergeben. 
Die erste nicht allein gegen die Chinesen ge- 
richtete Einwanderungsbeschränkung wurde 1885 
durch das Kontraktarbeitergesetz (contract labor 
law) geschaffen. Dadurch wurde jedem Arbeiter 
das Landen untersagt, der in seiner Heimat einen 
Vertrag mit einem amerikanischen Arbeitgeber ge- 
schlossen hatte. Das Gesetz schloß gleichzeitig von 
der Einwanderung aus mittellose Leute (paupers), 
Personen mit ansteckenden Krankheiten und Poly- 
gamisten. In den Jahren 1891, 1893 und 1903 
wurde das Gesetz abgeändert. Nach den gegen- 
wärtigen Bestimmungen sind außer den genannten 
Personen ausgeschlossen Idioten, Irrsinnige, Epi- 
leptiker, Leute, welche innerhalb fünf Jahren 
geisteskrank waren, gewerbsmäßige Bettler, Anar- 
chisten, Nevolutionäre, Prostituierte, Mädchen- 
händler und unterstützte Personen, deren Reise 
von anderer Seite bezahlt ist. Schauspieler, 
Sänger, Dienstboten usw. fallen nicht unter den 
Begriff Kontraktarbeiter. Von jedem Einwanderer 
wird eine Einwanderungstaxe von 2 Dol- 
lar (früher 1 Dollar) erhoben. Im Etatsjahr 
1905/06 wurden auf Grund dieser Gesetzgebung 
11.1000 (1906/07 13000) Personen (beidemal 
rund 1% der Einwanderer) am Landen verhindert. 
Dieses Resultat gilt als sehr gering. Hinderlich 
für das Gesetz ist namentlich, daß in den Nachbar- 
ländern, besonders in Kanada, solche Bestim- 
mungen nicht gelten und deshalb oft der Weg über 
kanadische Häfen zur Einwanderung gewählt wird. 
Auch die Feststellung, ob ein Kontraktabschluß vor 
der Einwanderung stattgefunden hat, ist sehr 
schwierig, und das Gesetz wird oft umgangen. Die 
Einwanderungspolitik der Union ist jetzt vor allem 
auf Reglung der Analphabetenfrage bedacht; er- 
strebt wird eine Prüfung der Einwanderer hin- 
sichtlich des Bildungsgrades und der geistigen 
Fähigkeiten, wie sie schon in den englischen Kolo- 
nien Natal, Britisch-Columbia und Westaustralien 
besteht. Dann wird auch, um wenig bemittelte 
Personen abzuhalten, die Erhöhung der Einwan- 
derungsabgabe auf 25 Dollar in Erwägung ge- 
zogen. Die Schiffahrtsgesellschaften, deren jahre- 
langer Konkurrenzkampf die Auswanderung sehr 
befördert hat, dürfen schon heute in ihren An- 
kündigungen nur die Abfahrtszeiten, Kosten usw. 
(nicht die Zeit der jetzt sehr kurzen Reisedauer) 
bekannt geben. Man erörtert nun, ob es sich nicht 
empfehlen würde, die Zahl der Einwanderungs- 
passagiere nach dem Tonnengehalt der Schiffe 
festzusetzen, die Einwanderer schon in den Aus- 
uhrhäfen durch amerikanische Einwanderungs- 
Sanitätsinspektoren untersuchen und eventuell ab- 
weisen zu lassen. Mit allen zulässigen Mitteln 
wird auch versucht, den Einwandererstrom von 
den industriellen nordatlantischen Staaten abzu- 
—— 
 
	        
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