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ausgehen — analoge Festsetzungen charakterisieren,
als auch durch sich in ihrem Schoß entwickelnde
gewohnheitsrechtliche Bildungen,
welche man mit dem Wort „Observanz“ zu be-
zeichnen pflegt. Es ist zwar von Beseler (System
des gemeinen deutschen Privatrechts) hervorgehoben
worden, daß die Autonomie diese letztere Art der
Rechtsbildung nicht in sich befasse. Indessen finden
wir nicht den mindesten sachlichen Grund, welcher
eine Beschränkung dieses Begriffes auf die in
legislativer Form vor sich gehende Rechts-
erzeugung innerhalb der mit dieser Gewalt be-
gabten, im Bereich des Staates existierenden Kreise
von Personen (Korporationen) und von seiten ein-
zelner Personen — denn auch solchen kann eine
solche Gewalt beigelegt sein — rechtfertigen würde.
Mögen immerhin die juristischen Schriftsteller des
17. und 18. Jahrh. das Wort „Autonomie“ nur
im Sinn dieser Befugnis zum Erlassen von
Statuten gebraucht haben. Es ist dies er-
klärlich in einer Zeit, welche in immer steigendem
Grad jede unabhängige, der Staatsgewalt, weil
aus der unmittelbaren Rechtsüberzeugung hervor-
gegangen, ihren Ursprung nicht verdankende Rechts-
bildung zu unterdrücken suchte. Ja, den umständ-
lichen Rechtsgelehrten jener Tage mit ihrer Vor-
liebe für präzise und genaue Auslegung der ein-
zelnen Paragraphen und Stellen der Gesetze waren
überhaupt vielfach alle freien, dem richterlichen
Ermessen weiteren Spielraum lassenden Rechts-
regeln antipathisch. Es kann also nicht wunder-
nehmen, daß sie in einer Zeit der Pedanterie, in
welcher nicht nur die Staaten, sondern auch die
in deren Umfang noch bestehenden, mit einer ge-
wissen Unabhängigkeit ausgestatteten Körperschaf-
ten alles durch bis in das Minutiöse gehende Ver-
ordnungen zu regeln strebten, an die gewohnheits-
rechtlich vor sich gehende Rechtsbildung nicht dach-
ten, als sie den Begriff der Autonomie definierten.
Denn, wie gesagt, ein innerer Grund ist durchaus
nicht ersichtlich, weshalb unter den Begriff Auto-
nomie nicht auch die Befugnis subsumiert sein
sollte, ohne formelle Reglementierung und Publi-
kation, aus dem Rechtsbewußtsein der Beteiligten
unmittelbar heraus, auf dem der selbständigen
rechtlichen Bestimmung der Betreffenden über-
lassenen Gebiet vorzugehen. Ist es doch einleuch-
tend, daß dieser letztere Weg der gewohnheits-
rechtlichen Entwicklung des korporativen Lebens
sich oftmals als der geeignetere erweisen wird.
Im Kreis homogener Elemente, welche in Hin-
sicht auf die Reglung ihrer übereinstimmenden
Interessen im Mittelalter in so reichlichem Maß
und auch jetzt wieder in bedeutendem Umfang zur
selbständigen Ordnung ihrer Angelegenheiten be-
rufen sind, wird sich für manche Fälle die Reg-
lung der Verhältnisse durch Observanz, d. h.
auf gewohnheitsrechtlichem Weg, besser empfehlen
als die statutarische Festsetzung, weil das Recht in
jener Erscheinungsform naturgemäß biegsamer
bleibt als in dieser Gestaltung, während doch die
Autonomie.
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fachmännische Vertrautheit der rechtserzeugenden
Kreise mit dem Gegenstand der rechtlichen Be-
stimmung unvermittelte Schwankungen und schrof-
fes Brechen mit der Rechtstradition nicht leicht
befürchten lassen dürfte. Wenn aber dergestalt
beide Formen der Rechtsbildung, die statutarische
wie die observanzmäßige, sich, was die Befugnis
zu ihrer Ausübung anlangt, in nichts unter-
scheiden, so erheischt anderseits das praktische Be-
dürfnis ihre gemeinschaftliche Behandlung, damit
nicht überflüssige Wiederholungen veranlaßt wer-
den. Es scheint also angemessen, dem Wort „Auto-
nomie“ einen etwas weiteren Sinn beizulegen,
und auch die Befugnis, gewohnheitsrechtliche Bil-
dungen in dem betreffenden rechtlichen Kreis ent-
stehen zu lassen, darunter zu begreifen.
Um nun einen Begriff von den verschiedenen
Modalitäten zu geben, unter denen die Auto-
nomie, wie sie soeben definiert ist, im Lauf der
historischen Entwicklung zur Darstellung ge-
langte, muß weit zurückgegriffen werden, damit
durch die Vollständigkeit eines solchen historischen
Überblicks, welcher, wenn auch nur refümierend,
den Einfluß der autonomen Institutionen auf das
öffentliche Leben erkennen läßt, ein Einblick ge-
wonnen werde, inwieweit bei der Frage der Pro-
vinzial-, Gemeinde-, Korporationsautonomie usw.
dem Streben nach möglichster Unabhängigkeit
dieser Organe Rechnung getragen werden dürfe
oder solle. Wenn sich ein besonders eklatanter
Gegensatz zwischen dem römischen und dem
deutschen Recht gerade auch auf dem Gebiet der
Organisation der in jedem größeren Staat un-
entbehrlichen untergeordneten und mit einer ge-
wissen Selbständigkeit ausgestatteten Faktoren des
öffentlichen Lebens, der Gemeinden, Gewerbs-
genossenschaften u. dgl. ergibt, und wenn z. B.
den Städten des römischen Kaiserreichs, auch den
mit Stadträten und Magistraten ausgestatteten,
eine Gesetzgebung in Munizipalangelegenheiten
überhaupt nicht zustand, so erscheint doch dieser
Kontrast beim Eintritt der germanischen Völker
in das europäische Kulturleben am allergrellsten.
Wir finden die alten Deutschen, freiheitsliebend
wie sie waren, nicht nur bestrebt, die individuelle
Unabhängigkeit zu sichern, sondern auch im öffent-
lichen Leben von demselben Geist beseelt. Die
Gemeinde ist autonom, und zwar geht in ihrem
Umkreis sowie für weitere Kreise, in dem der
Volksversammlung, die Rechtsbildung vor sich in
gewohnheitsrechtlicher Form. Ganz natürlich ent-
wickelte sich das Recht, aus den Bedürfnissen und
Lebensverhältnissen des Volks heraus je nach der
Verschiedenheit der Bodenverhälknisse, der persön-
lichen Entwicklung der Angehörigen der verschie-
denen Rechtskreise usw. mannigfache Gestaltung
gewinnend und doch durch die Einfachheit der
Zustände und die Gemeinschaftlichkeit der Ab-
stammung aller vor dem Überwuchern des Par-
tikularismus bewahrt. Derartige einfache Zu-
stände sind naturgemäß die geeignete Grundlage