Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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für autonome Rechtsbildung. Die Natürlichkeit 
und Klarheit der Verhältnisse macht ein bewußtes 
und planmäßiges Eingreifen der Staatsgewalt, 
in der ältesten Zeit richtiger Stammesgewalt ge- 
nannt, entbehrlich, wenigstens in der Regel und 
ausgenommen die Verhältnisse, welche eine kon- 
zentrierte Aktion des Stammes nach außen be- 
dingen. — Diese einfache, natürliche Situation 
des öffentlichen Lebens, diese ganz vorwiegend 
autonome Organisation des öffentlichen und des 
Privatrechtslebens konnte natürlich in gleichem 
Umfang nicht fortdauern, seit die germanischen 
Völker sich in den alten Kulturgebieten des römi- 
schen Weltreichs niedergelassen hatten. Die kom- 
plizierten Verhältnisse eines höher kultivierten 
Lebens, das Zusammenleben mit den durch phy- 
sische Gewalt überwundenen römischen oder ger- 
manischen Bewohnern der eroberten Länder, welche, 
anfangs von den rohen Eroberern gering geachtet, 
in West= und Südeuropa allmählich dadurch ihren 
Einfluß übten, daß sie die Eroberer durch ihre 
Kultur, vor allem durch ihre Religion bezwangen 
und sich assimilierten, machten ein Eingreifen der 
gesetzgebenden Tätigkeit für weite Gebiete des 
Rechtslebens notwendig. Dasselbe erwies sich auch 
in den vorwiegend germanischen Staatsgebieten 
der entstehenden Welt des zentral= und südeuro- 
päischen Mittelalters als unumgänglich, da ihre 
Zugehörigkeit zu dem zu einer Art von Weltreich 
anwachsenden fränkischen Reich ihre Christia- 
nisierung und ihre Kultivierung durch zahlreiche 
antike Zivilisationseinflüsse, die sich vielfach in 
glücklicher Weise mit den eigentümlich germanischen 
Anschauungen und Zuständen verbanden, bedingen 
mußte. Es folgten also den Kodifikationen der 
Volksrechte, welche, bereits vorwiegend unter dem 
Einfluß der soeben angedeuteten Verhältnisse 
entstanden und meist auf ehemaligem römischem 
Reichsgebiet erwachsen, sich im Gegensatz zu der 
bisher vorwiegend partikular = autonomistischen 
Rechtsbildung als allgemeinverbindliche staatliche 
Maßnahmencharakterisieren, diefränkischen Reichs- 
gesetze, die bereits über das Wesen des Stammes- 
rechts hinausgingen und sich als großartige ge- 
setzgeberische Maßregeln in einem Umfang dar- 
stellen, wie er erst im Geltungsgebiet der modernen 
staatlichen Gesetzgebung wieder erreicht worden ist. 
Die allgemeinen, für alle Teile des Staatsgebiets 
Bedeutung besitzenden Angelegenheiten, die sich 
ihrer Natur nach allenthalben für eine uniforme 
Behandlung geeignet zeigten und dieselbe sogar 
erheischten, Finanz-, Verkehrs-, öffentliches Kom- 
munikationswesen, Heerbann, kirchliche und Schul- 
sachen, und endlich der zur Wahrnehmung aller 
dieser Dinge notwendige Verwaltungsapparat 
bildeten den Gegenstand der von den fränkischen 
Königen erlassenen Gesetze, die vielfach in den 
Kapitulariensammlungen niedergelegt wurden. 
Wir sehen uns also in schon früher Zeit einer 
Entwicklung des öffentlichen Rechtslebens gegen- 
über, welche die autonome Gestaltung desselben 
Autonomie. 
  
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wesentlich einschränkte. Der Staat, die höchste und 
inletzter Linie ausschlaggebende Organisationsform 
des weltlichen Rechtslebens, tritt selbstbewußt in 
Tätigkeit. Der durch erhöhte geistige Tätigkeit, 
durch die Anfänge von Schul-, ja sogar von ge- 
lehrter Bildung, vor allem durch die ebenso schönen 
als logischen Lehren und Vorschriften des katho- 
lischen Christentums geschärfte und entwickelte Geist 
der jungen Nationen schreitet zu einer bewußten 
und das die gesamte Nation gemeinsam betreffende 
Element des Rechtslebens erkennenden und erwei- 
ternden Fixierung des Rechts, die durch das für 
die gesamte Nation gesetzgeberisch funktionierende 
Organ derselben (den König, der als Beirat die 
Reichsversammlung der Großen geistlichen und 
weltlichen Stands zur Seite hatte) erfolgt. Daß 
dabei das autonome Leben nicht völlig verschwand, 
sondern in der Gemeinde einen reichlich bemessenen 
Wirkungskreis behauptete, braucht kaum hervor- 
gehoben zu werden. 
So schien sich ein schönes harmonisches Rechts- 
leben des beginnenden europäischen Mittelalters 
herauszubilden, welches, ohne die rechtsbildende 
Kraft des Volkslebens zu brechen, doch die dem 
germanischen Geist inhärierende Gefahr der na- 
tionalen Zersplitterung durch eine kräftige staat- 
liche Gesetzgebung hintanzuhalten vermochte und 
vielleicht bei längerer Dauer der starken Monarchie 
Pippins und Karls des Großen im Anschluß an 
die neubelebte römische Kaiseridee mit ihren 
antiken Reminiszenzen zu einer früheren, den 
Verhältnissen wahrhaft angepaßten Rezeption des 
römischen Rechts unter weiser Wahrung der lebens- 
fähigen germanischen Rechtsinstitute hätte führen 
können. Allein die zentrifugalen Leidenschaften 
der verschiedenen deutschen Stämme, der altger- 
manische Unabhängigkeitssinn, welcher wenigstens 
in den Großen oftmals noch so mächtig war, daß 
er die regelmäßige Ordnung einer starken Mon- 
archie nur schwer ertrug, die persönliche Untüchtig- 
keit der Nachfolger Karls des Großen führten 
jenen höchst traurigen Zustand der Gebiete der 
fränkischen Monarchie herbei, welcher dieselben um 
das Jahr 900 in volle Auflösung der staatlichen 
Ordnung versunken erscheinen ließ. Derselbe hielt 
zwar nicht zu lange Zeit an, indem er zur Bil- 
dung jener mittelalterlichen Feudalordnung 
führte, welche die des obrigkeitlichen Schutzes be- 
raubten freien Landbebauer in der Regel bei den 
benachbarten großen Grundherren, insonderheit 
bei den kaiserlichen Beamten selbst, den Grafen usw., 
die ihre eigenen Hintersassen kräftiger schützten als 
die vermöge ihrer Amtspflicht in ihren Schutz Be- 
fohlenen und oftmals Bedränger derselben, na- 
mentlich anläßlich der Ableistung der Heerbanns- 
pflicht, waren, durch freiwilligen Eintritt in den 
Lehnsverband Schutz suchen ließ. Wenn aber der- 
gestalt die Zersplitterung der bisherigen zentralen 
Staatsgewalt, deren Funktionenkreis auch bei der 
späteren Wiedererstarkung ein sehr beschränkter 
blieb, die einzelnen nicht allzu großer Unsicherheit
	        
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