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den freien Willen der einzelnen vermittelst des
sog. Contrat social wieder zu entreißen und
in den zivilen, geselligen Stand zurückzuversetzen
(V 52 ff). Hobbes' Naturstand ist in Wahrheit
ein zu überwindender natur= und vernunftwidriger
Stand, indem nur der gesellige Stand ein nor-
maler und vernünftiger ist (V 222; VII 83;
XI 399/400). Rousseau bewies sehr gut, daß
die Gewalt kein Recht zu befehlen und keine Pflicht
zu gehorchen begründe, wie man denn nicht sagen
kann, daß der Wind, welcher eine Eiche nieder-
wirft, hierzu ein Recht und die Eiche die Pflicht
niederzufallen habe, obschon das, was uns viele
Philosophen, z. B. Spinoza, als Naturrecht geben,
lediglich auf einer solchen absurden Behauptung
beruht. Rousseau sah indessen nicht ein, daß er
durch seinen Contrat social auf einem Umweg
doch wieder zu demselben Zwang als Grund der
Sozietät uns zurückführt. Abgesehen davon, daß
ein solcher Urvertrag praktisch unmöglich und gc-
schichtlich falsch ist und das, was er erklären sollte,
schon immer voraussetzt, leuchtet es ein, daß der
Wille des Menschen, der für ihn selber nicht ver-
bindend ist, dieses noch minder für andere sein
kann, daß er ferner unveräußerlich ist und bei
einem solchen Urvertrag nur der eigenen Gewalt
oder Zwangskraft sich entäußern könnte, um sie
der Disposition eines andern zu überlassen, jedoch
so, daß er dieselbe beliebig wieder zurücknehmen
könnte. Eine solche Delegierung der Zwangs-
kräfte würde jedoch nur ein Aggregat und keine
wahrhafte Konzentration derselben geben, weil ihr
das einende moralische Prinzip fehlte, durch
welches sie doch allein zur wahrhaften force pu-
blique erhoben wird. Diesen Einwürfen meinten
die Verteidiger eines Urvertrags durch das Postu-
lat der förmlichen Adhäsion aller Einzelwillen an
denselben zu begegnen, und als man nach dem
Motiv derselben frug, gaben sie als solches die
Selbstsucht (Solipsismus) oder das wohlver-
standeme Privatinteresse, somit gerade jenen anti-
sozialen Trieb an, welcher, falls er losgelassen
wird, alle soziale Einung gründlich zerstört. Die
Gesellschaft würde hierdurch zu einem Kampfplatz
aller selbstsüchtigen Interessen, und der Staat ver-
möchte sich bei diesem anarchischen Streit zur Not
nur einige Zeit und zwar nur durch einen Bund
mit den einzelnen Privatinteressen gegen die
übrigen zu erhalten, vermöchte sich also nur durch
Unterjochung und Knechtschaft eines Teils der
Gesellschaft selber zu behaupten, woraus dann die
Notwendigkeit der Sklaverei in den älteren Staa-
ten, besonders in Republiken, begreiflich wird.
Eine solche heillose Verkennung der moralischen
Natur der Macht oder Autorität und deren Ver-
mengung mit der physischen Kraft muß man als
die ratio status aller Despotie sowie aller An-
archie, welche nur Despotie der Menge ist, an-
erkennen. Schon die vorchristlichen Nationen und
selbst die Musternationen der Griechen und Römer
haben dieser falsch-naturalistischen Anschauung
Baader.
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gehuldigt, das Christentum hat dem Begriff der
Autorität seinen wahren Sinn und seine wahre
Sanktion von oben gegeben, die Reformation
hat den Begriff derselben verdunkelt und selbst
das blutige Gespenst der Volkssouveräni-=
tät aus dem Grab wieder heraufbeschworen,
wohin das Christentum dasselbe gebannt hatte;
den Fanatismus der religiösen Freiheit hat der
wiedererwachte Geist der Zügellosigkeit sodann
schnell zum Fanatismus der politischen Freiheit
ausgebildet, so daß Deutschland, Frankreich,
die Niederlande, England, Schottland mit
Ruinen sich bedeckten und in Blut schwammen,
und ein neues Völkerrecht hat zugleich sich ent-
wickelt, welches nichts anderes ist als ein Sy-
stem des eifersüchtigen kriegerischen Gleichge-
wichts, nach welchem das unmenschliche Gold
und das unmenschliche Eisen das Defizit des mo-
ralischen Elements zu ersetzen haben. — Dies die
Baadersche Kritik der Lehre vom Contrat social
und der Volkssouveränität (V 168/172). Rechts-
begründend wirkt sonach nicht die physische Ge-
walt (korce). Diese hat lediglich der moralisch
gebietenden Macht oder Autorität als selbstloses,
exekutives Werkzeug zu dienen (V 297). Rechts-
begründend wirkt ebensowenig der freie Wille der
einzelnen; ohnedem hätte jedes Kind das Recht,
seine Eltern wegen der Legitimität seiner Existenz
zu belangen, weil sie ja ohne seine Beistimmung
ihm die Existenz gaben, und es müßte auch dem
Vorschlag eines Professors der Statistik, daß
„Bayern sich ganz a novo et ab ovo mittels
einer General= oder Urversammlung konstituieren
solle“, unweigerliche Folge geleistet werden. Ohne
Zweifel hat die Idee des Sozialkontraktes am
vernünftigsten noch Burke gefaßt, indem er sagte,
daß die Sozietät zu jeder Zeit ein Gesellschafts-
vertrag der Lebenden sowohl mit den noch Un-
gebornen als mit den Verstorbenen sei; hierdurch
ist sowohl das Recht des Werdenden wie das Recht
des Gewordenen gewahrt (VI 70/71).
Baader erkennt sonach ein Naturrecht an,
jedoch nur ein solches, das von oben herab und
nicht von unten herauf seine Sanktion gewinnt.
Wie verhält sich ein solches Naturrecht nun zu
dem in der Zeit sich ausgestaltenden und höchst
mannigfach ausgestaltenden positiv-mensch-
lichen Recht? Es verhält sich zu ihm nicht
revolutionierend, sondern evolutionierend. Baader
erklärt sich gegen einen Revolutionismus des
„positiven Rechtsbestands“, als ob ein solcher je
ein notwendiger Durchgangspunkt zu einem den
Bedürfnissen der Gesellschaft und den Anforde-
rungen des Zeitgeistes unentbehrlich gewordenen,
neuen Zustand wäre; er erklärt sich vielmehr
für einen Evolutionismus des „positiven Rechts-
bestandes“; denn wer eine absolute Unveränder=
lichkeit oder Erstarrtheit des jedesmaligen positiven
Rechtsbestandes der Sozietät behaupten wollte,
würde sich ebenso unvernünftig und ungerecht und
schlecht zeigen als jener, der einen andern als einen
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