Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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rechtlichen Ubergang von einem Rechtsbestand in 
einen andern verlangte (VI 69). Seine Aus- 
bildung zum positiv-menschlichen Recht gewinnt 
das Naturrecht zunächst durch die Staatssozietät. 
Die Staatssozietät ist allererst eine na- 
türliche Sozietät der „Liebe und Eintracht“. 
Wird diese Liebe und Eintracht verletzt, dann 
muß sie den mehr familiären, patriarchalischen 
Charakter abstreifen und als öffentlich-gesetzgebe- 
rische Macht hervortreten, also gesetzliche oder 
zivile Sozietät werden. Falls das Geset verletzt 
wird, muß sie als eine dasselbe handhabende 
oder vindizierende Macht hervortreten, also zur 
politischen Sozietät sich steigern. Innerhalb des 
hebräischen Staatswesens ist diese Dreiteilung in 
der ursprünglichen Theokratie, in der Herrschaft 
der Richter und Könige zum Ausdruck gekommen. 
Die société naturelle, civile et politique bilden 
somit drei Gestaltungsmomente der staatlichen wie 
in entsprechender Weise auch der religiösen Ge- 
sellschaft (1 113;, II 213; V74/75 297). Aber 
kein Zwang erhält, wo die Vaterlandsliebe schwin- 
det, dauernd den Staat. „Durch bloße Furcht ohne 
Achtung, durch bloßes eigennütziges Interesse ohne 
Liebe, durch bloßen Erwerb und Besitz ohne Recht 
entsteht und besteht kein menschlich Regiment"“ 
(VI 38). — Der Staat wird gebildet durch den 
Regenten und das Volk. Der Regent ist das 
höchste Glied oder das Haupt des Staatsorganis- 
mus, doch nicht dessen Zentrum; er repräsentiert 
die Einheit der Nation, ohne indes das Prinzip 
dieser Einheit zu sein. Es wäre despotischer Ab- 
solutismus, den Regenten zum Zentrum, die Re- 
gierten zur Peripherie zu machen und als Besitz 
und Eigentum desselben zu erklären; nicht minder 
wäre es auch ein solcher, das Volk zum herrschen- 
den Zentrum machen zu wollen (VI 86; VII 220). 
Der Regent ist nicht von Volkes Gnaden, noch 
das Volk von des Regenten Gnaden. Jener soll 
in diesem, dieses in jenem Gott achten und an- 
erkennen, eingedenk dessen, daß „beide nur aus 
Gottes Gnaden bestehen und sich in und vor Gott 
zusammen in Pflicht genommen und gegeben 
haben“ (VIx41/42). Ubrigens ist es nur „Gottes 
Wille und Einsetzung, daß regiert werde, aber die 
Bestimmung des Wer= und Wie-Regierens ist 
Sache des Menschen. In diesem Sinn sagt 
Paulus: Omnis potestas est a Deo. Nämlich 
potestas heißt hier das Regiment oder Macht- 
amt, nicht der Machthaber, und man legt diesen 
Spruch falsch aus, wenn man ihn so deutet, als 
ob Gott diese oder jene Person, diese oder jene 
Regimentsweise (Verfassung) eingesetzt hätte“ 
(V343). Unverständigerweise setzte man das Heil 
des Staats oft lediglich in die Form der Ver- 
fassung, darauf vergessend, daß alle Formen der 
Gesellschaft ohne den Gemeingeist der Religion 
drückend und unleidlich werden, indem die „Despo- 
tie monarchische, aristokratische oder demokratische 
Form annehmen kann" (VI 20). — Seinerseits 
ist Baader gegen das Prinzip der französischen 
Baader. 
  
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Volksrepräsentation, welches alle korpo- 
rativen und ständischen, germanisch-organischen 
Elemente radikal tilgt und in einen elementaren 
Grundbrei auflöst (X 106); er ist für das Prin- 
zip einer ständischen Repräsentation und in diesem 
Sinn für konstitutionelle Monarchie. Hält er 
auch dafür, daß eine Regierung im höchsten Grad 
konstitutionell sein könnte ohne Ständeversamm- 
lung, wenn den beratenden Behörden volle Unab- 
hängigkeit und ihren Verhandlungen möglichste 
Publizität zukäme, redet er zuweilen auch nur 
von einer mitberatenden Tätigkeit der Ständever- 
sammlungen (145; VI 49 87), bezeichnet er ins- 
besondere auch die bayrische Ständeversammlung 
als einen „nicht permanenten, offenen Landrat" 
(V 368): so kann daraus nicht mit J. H. Fichte 
(System der Ethik II1850/51l 45) und J. Ham- 
berger (Die Fundamentalbegriffe von Fr. Baa- 
ders Ethik, Politik (1858) 25/26) gefolgert wer- 
den, daß er den in den modern-konstitutionellen 
Staaten bestehenden Kammern das Mitentschei- 
dungsrecht abgesprochen habe, wie Fr. Hoffmann 
mit Recht bemerkt (Grundzüge der Sozietäts- 
philosophie Baaders: 173). Hat ja Baader ander- 
wärts von einer Teilung der „gesetzgebenden Ge- 
walt“ durch eine ständische Verfassung geredet 
(VI 68) und eine eigene Abhandlung über die 
aus dieser Teilung möglicherweise entstehenden 
Konflikte und deren Abhilfe verfaßt. Diese Ab- 
handlung, 1831 veröffentlicht, führt den Titel: 
„Über ein Gebrechen der neuen Konstitutionen.“ 
Worin besteht dieses Gebrechen? Darin, daß so- 
wohl die Regierungen wie die Kammern im Fall 
einer Differenz, insbesondere im Fall einer Ver- 
fassungsverletzung von der einen oder andern Seite 
niemand als Gott und dem eigenen Gewissen ver- 
antwortlich zu sein glauben, was leicht „Veran- 
lassung zu Gewaltstreichen“ werden kann. Eine 
friedliche Lösung in solchem Konfliktsfall kann 
nicht durch ein stabiles Institut bewerkstelligt wer- 
den, wie z. B. durch ein Ephorat oder einen 
Senat nach Art der französischen Parlamente, 
welche das Recht der sog. Einregistrierung übten; 
denn ein solches Institut würde wieder eine be- 
sondere Staatsgewalt sein und selber wieder einer 
Kontrolle durch eine weitere Instanz bedürfen, wo- 
durch ein progressus in infinitum entstände. 
Eine friedliche Lösung könnte in solchem Konflikts- 
fall nur durch ein „momentan entstehendes und 
bestehendes Schiedsgericht“ erfolgen (VI 47/54). 
Wie verhält sich nun das Naturrecht samt 
dem in ihm wurzelnden positiv-staatlichen Recht 
zum positiv-göttlichen und dem in diesem 
wurzelnden positiv -kirchlichen Recht? wie der 
Staat zur Kirche? Gleichwie das im staatlich- 
positiven Recht zum Ausdruck kommende vernünf- 
tige Naturrecht nicht ohne vernünftige Natur- 
moral und Naturreligion bestehen kann, so kann 
diese Naturreligion hinwiederum nicht bestehen in 
deistischer Trennung von der positiv-göttlichen 
Offenbarungsreligion. Jedes Recht wie jede Moral
	        
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