Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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sammlungen dieselben vertritt mit dem Recht der 
öffentlichen Darlegung der Beschwerde, der Klage, 
also eine „Repräsentation oder Advokatie“ der- 
selben bildet, und in den einzelnen Provinzial- 
und Distriktsversammlungen sollen sie auf solche 
Weise nicht minder vertreten sein. Eine solche 
Repräsentation hat aus selbstgewählten, dem Ar- 
beiterstand angehörigen Spruchmännern und dem 
„als Fürsprecher, Leiter, Pfleger beigegebenen 
Klerus“ zu bestehen. Die Bedürfnisse des Lebens 
find auch für die Arbeiter größer geworden und 
im Steigen begriffen, und die unter ihnen ein- 
gerissene Irreligiosität macht deren Stachel un- 
leidlich; hier kann der Klerus am ehesten hilfe- 
bringend wirken, und die Regierung soll sich des- 
halb angelegen sein lassen, ihn mit den arbeitenden 
Klassen nicht bloß zu geistlicher, sondern auch zu 
zeitlicher Hilfeleistung in Verbindung zu öringen. 
Der Klerus hat ehemals — dem alten Heidentum 
gegenüber — durch Ubung des Diakonats als 
Vermittler der Armen und Reichen sich betätigt, 
er soll es abermals dem modernen Welttum gegen- 
über. So in einer 1834 an einen Staatsmann 
eingereichten Denkschrift (XV 506/510) und in 
der 1835 veröffentlichten Schrift über „das der- 
malige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder 
Proletärs zu den Vermögen besitzenden Klassen 
der Sozietät" (VI 137/143). 
Welches Urteil ist über die Lehre Baaders 
vom Prinzip der sittlichen und rechtlichen Ord- 
nung, vom Prinzip und der Organisation des 
Staats und der Kirche und der sozial-politischen 
Gesellschaft nun zu fällen? Bildet sie ein zu- 
sammenhängendes Ganzes? Allerdings. Wir 
finden hier überall zwar nur hingeworfene, zacken- 
artig sich bewegende, nach den verschiedensten 
Seiten hin funkelnde, da oder dort einschlagende 
Gedankenblitze von oft sehr genialer Natur; durch 
alle hindurch leuchtet aber ein Grundgedanke. 
Ein inneres Gedankensystem verkettet sie alle trotz 
allen Mangels einer äußeren Systematik. Nur 
aus dem Ganzen dieses Gedankensystems heraus 
vermag auch Baaders Sozietätsphilosophie ver- 
standen und gewürdigt zu werden. Mit vollster 
Seele wirft er sich dem Sensualismus und 
Materialismus der englischen und französi- 
schen Schule entgegen, indem sie nur die Bestiali- 
sierung des Menschen betreiben. Sofort verwirft 
er jedwede Ableitung der Sittlichkeit und des 
Rechts aus bloßer Macht und Willkür des Stär- 
keren, aus freiem Vertrag der einzelnen, aus sinn- 
lichem Nützlichkeits= oder sinnlichem Sozialtrieb. 
Mit vollster Seele bekämpft er ferner den Kant- 
schen Autonomismus, welcher ob den die 
Naturwelt beherrschenden Verstandesgesetzen des 
Menschen den Gesetzgeber ganz und ob den die 
sittliche Welt beherrschenden Vernunftgesetzen des 
Menschen den Gesetzgeber nahezu vergißt, indem 
er ihn zu einem bloßen Glaubenspostulat macht, 
die Religion zu einem bloßen Anhängsel der auto- 
nomen Moral herabdrückt und so in Ichtrunken- 
Baader. 
  
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heit und Selbstvergöttlichung endet, in denen auch 
alle Moral ein Ende hat (I 19 143 308; 11.30). 
Eine wahrhaft religiöse Moral ist wohl eine 
heteronome, deshalb aber keine ihrem Motiv nach 
unreine Moral, wie Kant behauptet. Weiterhin 
verwirft Baader den Pantheismus Fichtes, 
des früheren Schelling, Hegels und nicht min- 
der den Persönlichkeitspantheismus des 
späteren Schelling (IV 416; XII 457); ferner 
verwirft er auch jede auf einem pantheistischen 
Prinzip ruhende Sitten= und Rechtslehre, welche 
entweder das Endliche, Kreatürliche selber als böse 
faßt, ohne dessen revolutionären abnormen und 
dessen evolutionären normalen Lebensprozeß zu 
unterscheiden, oder wenigstens den ersten zur not- 
wendigen Folie des zweiten macht mit Unter- 
grabung aller wahren menschlichen Freiheit, also 
auch mit Untergrabung aller wahren Ethik (II 
462; VII 159 f.. 
In welchem Sinn ist aber Baader für einen 
religiösen Theismus? Im Sinn eines 
Ontologismusirgendwelcher Art! Die 
Lehre Baaders ist vorherrschend Theosophismus, 
sofern sie alles weniger auf eine entwickelte philo- 
sophische Weise als vielmehr auf eine die Mittel- 
glieder überspringende, intuitive Weise in Gott 
als höchstem Lebensgrund erfaßt; sie ist jedoch 
kein eigentlicher Ontologismus im Sinn eines 
Malebranche usw. Unser sinnliches und vernünf- 
tiges Erkennen ist nicht wesentlich und schlechthin 
schon Gottschauung; wir vermögen die sinnlichen 
Erscheinungen und deren Wesenheiten auch in 
ihnen selber zu schauen, sollen sie jedoch in Gott 
schauen als durch ihn geschaffen und gehalten 
(1 348 370). Die Gottschauung ist nicht die 
erste Vernunfterkenntnis; wir haben vielmehr von 
uns selbst und der Welt aus erst zur Erkenntnis 
Gottes emporzusteigen (I 6 67; XV 283). 
Wenn also Baader sagt, Gesetz ist nur durch 
ursprüngliches Gesetztsein, und „Recht ist nur, 
was zu Gott gerichtet ist“ (V 152 219), so will 
damit nicht gesagt sein, daß die Ideen der Sitt- 
lichkeit und des Rechts ihrem Inhalt nach durch 
eine, wiewohl nur unvollkommene Gottschauung 
gewonnen werden; sie werden vielmehr gewonnen 
durch die Schauung des harmonischen Verhält- 
nisses der menschlichen Einzelwesen zum mensch- 
lichen Allgemeinwesen, um von da aus erst zu 
Gott emporzusteigen und durch ihn als Urgrund 
erst in vollerer Weise zu begreifen. Allerdings ist 
indessen der von uns erkannte göttliche Wille der 
formelle Grund, warum wir uns verpflichtet fühlen, 
den idealen Gehalt der Sittlichkeit und des Rechts 
zu realer Ausgestaltung zu bringen. Baader be- 
kämpfte deshalb eine von der religiösen Bafis 
losgelöste Naturrechtslehre und Sittenlehre, wie 
sie seit Hugo Grotius herrschend wurden; er be- 
kämpfte deshalb insbesondere auch die Kantsche 
Autonomie der praktischen Vernunft. Unter den 
neuzeitlichen Philosophen Deutschlands hat nächst 
Baader namentlich Julius Stahl eine religiöse
	        
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