Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Ethit und Rechtslehre verteidigt. Er betrachtet 
gleich Baader das bindende Ansehen Gottes als 
Grund aller Verbindlichkeit, alles ethischen und 
rechtlichen Sollens (Phil. des Rechts III71854/56) 
1 98/102); im Gegensatz zu ihm will er aber nur 
den Inhalt des individuellen Ethos, z. B. Liebe, 
Wahrhaftigkeit usw., seinem letzten Grund nach 
aus Gottes Wesen — dessen Heiligkeit nämlich — 
ableiten, den Inhalt des sittlichen und rechtlichen 
Gemeinethos, z. B. der ehelichen Liebe, Treue, ver 
Vaterlandsliebe, der Familie, der Vermögens- 
ordnung, des Staats, dagegen aus dem freien 
Willen Gottes, weil in dessen Wesen sich von 
alledem nichts finde (ebd. 92/94), was offenbar 
ein zu weitgehender, schrankenloser Indeterminis- 
mus ist. 
Baader erkennt ein Naturrecht an und nicht 
bloß ein positiv-geschichtliches Recht, dem Volks- 
geist entquellend, unter der Leitung der sittlich- 
religiösen Ideen, wie die sog. historische Schule 
(Savigny, Puchta, Niebuhr, Stahl usw.). Er 
steht insofern im Gegensatz zu letzterer, gewiß 
mit vollem Recht. Wie geht aber das Naturrecht 
oder — was dasselbe ist — das ideale Vernunft- 
recht in ein positiv-menschliches über? Durch den 
freien Gesellschaftsvertrag : Wenn ein solcher das 
Wesen des idealen Rechts auch nicht zu erzeugen 
vermag, kann er dasselbe nicht wenigstens in die 
Erscheinung überführen, d.h. positiv-mensch- 
liches Recht begründen? Unter bestimmten Um- 
ständen freilich; doch gar vielfach ist dieses letztere 
nicht ein Erzeugnis des freien Vertrags oder nur 
überhaupt der frei bewußten Reflexion. 
Insofern steht Baader auf seiten der historischen 
Rechtsschule, und mit guten, ja den besten Gründen. 
Wie oft treibt nicht unfreie Gewalt, die in un- 
abwendbarer Weise sich geltend macht und in 
all ihren Folgen nie mehr zu beseitigen ist, neue 
Rechtsbildungen hervor? Wie oft wirkt nicht die 
rechts= und verfassungbildende Kraft analog der 
sprachenbildenden auf mehr instinktive Weise, 
um erst hintennach auf ihre eigene Wirksamkeit 
und deren Gesetze sich zu besinnen und diese letzteren 
in freibewußter Weise weiter auszugestalten? Es 
ist also ebenso ungeschichtlich wie unspekulativ, die 
verpflichtende Kraft des Gewohnheitsrechts aus- 
schließlich nur aus einer frei bewußten Reflexion 
und Sanktion des Gesetzgebers, sei es einer aus- 
drücklichen oder stillschweigenden, ableiten zu 
wollen, wie es vor dem Auftreten der historischen 
Schule vielfach geschah. Das Prinzip der im 
Contrat social wurzelnden Volkssouveränität 
bildet kein notwendiges Prinzip für die geschicht- 
liche Entstehung und verfassungsmäßige Regierung 
der Einzelstaaten, geschweige denn, daß es das 
Wesen des Staats überhaupt begründen könnte, 
indem derselbe ein aus sittlicher Notwendigkeit 
erwachsender Organismus ist und nicht ein aus 
der Willkür der einzelnen entstehender Mechanis- 
mus. Mit Recht geißelt es deshalb Baader als 
eine gefährliche Torheit unserer Zeiten, gemäß 
  
Baader. 
  
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welcher man sich einbildet, beliebig Gesellschaften 
konstruieren oder auch destruieren zu können, wie 
man Manufakturanstalten etabliert und wieder 
abbricht und so bald eine Republik, bald wieder 
eine Monarchie errichtet und mit dem verrufenen 
Thomas Payne sich einbildet, daß nur das eine 
leibhafte Konstitution sei, was man schwarz auf 
weiß in die Tasche stecken kann (VI 165). 
Konnten wir bisher mit nahezu ungeteiltem 
Beifall den sozial-philosophischen Anschauungen 
Baaders folgen, so können wir es nicht mehr be- 
züglich der Verhältnisbestimmungen des Natur- 
rechts und des in ihm wurzelnden positiv-mensch- 
lichen Rechts zum po sitiv-göttlichen, sowie 
des Staats zur Kirche. Auch dies erklärt sich 
aus dem Ganzen des Systems. Niemals hat sich 
letzteres einem milderen Traditionalismus und 
einem mystischen Naturalismus völlig entrungen. 
Nicht die Summe aller einzelnen Menschen, nicht 
der sensus communis im Sinn von Lamennais 
wirkt je gewißheitsbegründend; denn was jeder 
einzelne nicht hat, die Autorität nämlich, das 
haben allesamt ebensowenig; der strenge Tra- 
ditionalismus wird somit verworfen (V 57; VI 
119/120). Doch die äußere Offenbarung Gottes 
und deren Überlieferung bildet einen notwendigen 
Erweckungs= und Anregungsgrund aller religiösen 
Gewißheit; dieser den milderen Traditionalismus 
kennzeichnende Grundgedanke zieht sich durch alle 
Schriften Baaders hindurch (V 59 ff 197 215 
231/232 usw.). Aus dieser irrtümlichen Vor- 
aussetzung ergab sich die irrtümliche Folge, daß 
nicht bloß die Wirklichkeit, sondern auch die Mög- 
lichkeit eines bloßen Naturrechts, einer bloß na- 
türlichen Moral und Religion ohne positiv-gött- 
liche Offenbarung und ohne die Kirche als deren 
Vermittlerin in Abrede zu stellen sei. Die positiv- 
göttliche Offenbarung wird zwar als übernatürliche 
gefaßt im Unterschied von der allgemein geschöpf- 
lichen, natürlichen, jedoch nur in einem relativen 
Sinn, so wie innerhalb der letzteren jede höhere 
Stufe im Verhältnis zu der ihr vorausgehenden, 
z. B. die menschliche zur tierischen, diese zur vege- 
tabilischen usw., als übernatürlich erscheint. Baa- 
der hat sich zu sehr von den Prinzipien der von 
der Kabbala, Paracelsus auf J. Böhme, Saint- 
Martin vererbten Mystik beherrschen lassen trotz der 
ganzselbständigen Durchbildung und Anwendung, 
die er ihnen allseits gegeben; er ist deshalb, wie 
überhaupt, so auch in der Gesellschaftslehre über 
einen mystischen Naturalismus nicht zu einem 
reinen, unverfälschten Supranaturalismus christ- 
licher Weltanschauung hinausgekommen. — Auch 
sein „Katholizismus“ trägt selbstverständlich 
diese Färbung an sich. Hat er der katholischen 
Kirche als der großen Weltinnung auch einen uni- 
versellen Charakter beigemessen im Verhältnis zu 
den Einzelstaaten, so doch nur einen relativ über- 
natürlichen im oben bezeichneten Sinn. In früherer 
Periode legte er ihr wenigstens noch das Charisma 
der Unfehlbarkeit bei, so sehr er auch die göttliche
	        
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