557
und Landsmann, Kanonikus Antonio Soler,
später von ihm sagen konnte: „Kein einziges Wort
ist je aus dem Mund von Balmes gekommen,
welches das Recht gäbe, zu sagen, er sei mehr oder
weniger liberal, weiß oder schwarz (nach damaliger
Parteibezeichnung) gewesen. Er war nicht der
Mann, der seine Gedanken hätte durchschauen
lassen. Wenn man von seinen öffentlichen Schriften
absieht, so ist es gewiß, daß seine innerste Mei-
nung nicht einmal geahnt werden konnte, so groß
war seine Zurückhaltung.“ Daher das allgemeine
Erstaunen, als im April 1840 von ihm eine gegen
Esparteros Kirchenplünderung gerichtete
Schrift Observaciones sociales, politicas y
econômicas sobre los bienes del clero (Vich;
Barcelona 21854) erschien und Martinez de la
Rosa, ungeachtet der gegen seine eigene politische
Vergangenheit sich richtenden Kritik, auf einen bis
dahin fast unbekannten Namen sich stützend, dessen
Autorität gegen Espartero in den Cortes unter
Vorlesung der Hauptstellen anrief. Was solches
Aussehen verursachte, war nicht so sehr der Inhalt
der Schrift als der Standpunkt und die Über-
zeugungzkraft, die sich hier zur Geltung brachten:
die Frage nach den Gütern des Klerus war keine
Frage liberaler oder radikaler Parteipolitik; es
handelte sich in ihr um das Christentum, das
Existenzrecht der Kirche, die gesamte Sozialord-
nung des Landes. Das kirchliche Eigentum, so
alt wie die Kirche, war der Lohn für ihre Dienste,
das Instrument ihrer Wohltaten, der Schutzwall
ihres freien sozialen Wirkens. Durch den Feuda-
lismus der Charitas brach die Kirche den Feuda-
lismus der rohen Gewalt; durch ihren Großbesitz
und die an ihm haftende politische und soziale
Machtstellung wurde sie die Bildnerin aller Ele-
mente der modernen Zivilisation in Wissenschaft,
Rechtspflege, Gewerbe, Verkehr, Kunst, Gesittung
bis zur Schöpfung der Nationalitäten. Der Raub
des Kirchenguts ist ein Attentat auf die Nation und
auf eine der Grundbedingungen ihrer Existenz,
Freiheit und Unabhängigkeit; jede anderweitige
Verteilung des sozialen Reichtums, die Verschleu-
derung des Kirchenguts wurde die Mutter des
Pauperismus und ist der Sieg des Sozialismus.
Im Juli 1840 war Balmes nach Barcelona
gezogen; er sah hier, nachdem Cabrera mit den
Resten der im Feld stehenden Karlisten nach
Frankreich übergetreten war, in schamlosen Pöbel-
exzessen die von Esparteros Übermut dekretierte
Erniedrigung der Monarchie. Seit 29. Juni 1840
befand sich hier Marie Christinens Hof; Espartero
benutzte das das spanische lokale Selbstverwaltungs-
recht tief verletzende Gesetz über die Ayuntamien-
tos und die blutige Niederwerfung (21./22. Juli)
des gegen dasselbe sich erhebenden Volkes, um
die Königin zur Abdankung zu zwingen (10. Okt.
1840). Im August 1840 trat Balmes kühn mit
den Consideraciones politicas sobre la situa-
ciön de Espa#a (Barcelona) nochmals der sieg-
reichen Revolution mit der Anklage der Zer-
Balmes.
558
trümmerung der nationalen Existenz Spaniens
entgegen, die Ordnung der politischen Lage als
eine weitere Grundlage der sozialen Rekonstitution
mit derselben Festigkeit und Mäßigung, aber noch
vollendeterer Meisterschaft des politischen Urteils
und der Sprache betonend. „Ich habe“, erklärte
Balmes selbst später, Inhalt und Tendenz der
Schrift genau würdigend, „nicht die Verteidigung
der Königin Christine geführt, an den Personen
lag mir wenig; ich hielt die gesunden religiösen
und monarchischen Traditionen aufrecht. Obschon
bereits damals die Bestrebungen der Revolution
und der Ehrgeiz Esparteros offenbar wurden,
behauptete ich doch die Notwendigkeit, daß die
Regierung in königlichen Händen bleibe. Ich
drückte mich mit voller Freiheit zugunsten der
Karlisten aus, indem ich ihren Überzeugungen
und Absichten Gerechtigkeit widerfahren ließ und
damals schon erklärte, was ich heute (1848) wieder-
hole, daß bei uns kein politisches System sich be-
festigen kann, das nicht jene große Partei als ein
Element in die Regierung aufnimmt. In dem
Augenblick, als ich jene Sprache führte, waren die
Karlisten unterlegen und die Revolution stand in
voller Kraft.“
Hatte Balmes seit der fruchtlosen Erhebung
der Moderados in der Nacht vom 21. auf den
22. Juli sich überzeugt, daß es sich in Spanien
um etwas ganz anderes handle als um dynastische
Interessen und politische Parteikämpfe, und daß
deren Obsiegen nach keiner Seite hin mehr die
Zukunft sichern könne, dann mußten die Ursachen
so furchtbarer Krankheitserscheinungen tiefer ge-
sucht werden. Seine beiden ersten politischen
Schriften, eine strenge Rechenschaftslegung über
die Wirklichkeit der politischen und sozialen Lage
Spaniens, waren Pfadfinder seines rastlos ar-
beitenden Geistes geworden, und mit aller Energie
auf Studien zurückgreifend, die, in Cervera an-
geregt, in der jahrelangen Einsamkeit zu Vich
vertieft wurden, kam er jetzt zur Klarheit, daß den
Krankheitserscheinungen der Zeit eine Fälschung
der christlichen Zivilisation zugrunde liege, die
allein einen wissenschaftlich ausreichenden Grund
für das beständige Schwanken der modernen Ge-
sellschaften zwischen Freiheit und Despotie, zwischen
Fortschritt und Verelendung, zwischen Leben und
Tod biete. Es handelte sich für Balmes um ge-
schichtlich-philosophische Forschungen über
den Entwicklungsgang der modernen Zivilisation;
sie kamen in Barcelona zum Abschluß, und im
Jahr 1842 begann die Drucklegung des Werkes,
welches er unter dem furchtbaren Wechsel der eigenen
Lebensschicksale und der seiner Umgebung „seinen
Traum, seine Hoffnung, sein Ideal in dieser Welt“
genannt hatte. Das Werk erschien unter dem
Titel: El Protestantismo comparado con el
Catolicismo en sus relaciones con la civili-
zaciôn europea (4 Bde, Barcelona 1842/44,
*1875): „Protestantismus und Katholizismus
in ihren Beziehungen zur europäischen Zivili-