Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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und Landsmann, Kanonikus Antonio Soler, 
später von ihm sagen konnte: „Kein einziges Wort 
ist je aus dem Mund von Balmes gekommen, 
welches das Recht gäbe, zu sagen, er sei mehr oder 
weniger liberal, weiß oder schwarz (nach damaliger 
Parteibezeichnung) gewesen. Er war nicht der 
Mann, der seine Gedanken hätte durchschauen 
lassen. Wenn man von seinen öffentlichen Schriften 
absieht, so ist es gewiß, daß seine innerste Mei- 
nung nicht einmal geahnt werden konnte, so groß 
war seine Zurückhaltung.“ Daher das allgemeine 
Erstaunen, als im April 1840 von ihm eine gegen 
Esparteros Kirchenplünderung gerichtete 
Schrift Observaciones sociales, politicas y 
econômicas sobre los bienes del clero (Vich; 
Barcelona 21854) erschien und Martinez de la 
Rosa, ungeachtet der gegen seine eigene politische 
Vergangenheit sich richtenden Kritik, auf einen bis 
dahin fast unbekannten Namen sich stützend, dessen 
Autorität gegen Espartero in den Cortes unter 
Vorlesung der Hauptstellen anrief. Was solches 
Aussehen verursachte, war nicht so sehr der Inhalt 
der Schrift als der Standpunkt und die Über- 
zeugungzkraft, die sich hier zur Geltung brachten: 
die Frage nach den Gütern des Klerus war keine 
Frage liberaler oder radikaler Parteipolitik; es 
handelte sich in ihr um das Christentum, das 
Existenzrecht der Kirche, die gesamte Sozialord- 
nung des Landes. Das kirchliche Eigentum, so 
alt wie die Kirche, war der Lohn für ihre Dienste, 
das Instrument ihrer Wohltaten, der Schutzwall 
ihres freien sozialen Wirkens. Durch den Feuda- 
lismus der Charitas brach die Kirche den Feuda- 
lismus der rohen Gewalt; durch ihren Großbesitz 
und die an ihm haftende politische und soziale 
Machtstellung wurde sie die Bildnerin aller Ele- 
mente der modernen Zivilisation in Wissenschaft, 
Rechtspflege, Gewerbe, Verkehr, Kunst, Gesittung 
bis zur Schöpfung der Nationalitäten. Der Raub 
des Kirchenguts ist ein Attentat auf die Nation und 
auf eine der Grundbedingungen ihrer Existenz, 
Freiheit und Unabhängigkeit; jede anderweitige 
Verteilung des sozialen Reichtums, die Verschleu- 
derung des Kirchenguts wurde die Mutter des 
Pauperismus und ist der Sieg des Sozialismus. 
Im Juli 1840 war Balmes nach Barcelona 
gezogen; er sah hier, nachdem Cabrera mit den 
Resten der im Feld stehenden Karlisten nach 
Frankreich übergetreten war, in schamlosen Pöbel- 
exzessen die von Esparteros Übermut dekretierte 
Erniedrigung der Monarchie. Seit 29. Juni 1840 
befand sich hier Marie Christinens Hof; Espartero 
benutzte das das spanische lokale Selbstverwaltungs- 
recht tief verletzende Gesetz über die Ayuntamien- 
tos und die blutige Niederwerfung (21./22. Juli) 
des gegen dasselbe sich erhebenden Volkes, um 
die Königin zur Abdankung zu zwingen (10. Okt. 
1840). Im August 1840 trat Balmes kühn mit 
den Consideraciones politicas sobre la situa- 
ciön de Espa#a (Barcelona) nochmals der sieg- 
reichen Revolution mit der Anklage der Zer- 
Balmes. 
  
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trümmerung der nationalen Existenz Spaniens 
entgegen, die Ordnung der politischen Lage als 
eine weitere Grundlage der sozialen Rekonstitution 
mit derselben Festigkeit und Mäßigung, aber noch 
vollendeterer Meisterschaft des politischen Urteils 
und der Sprache betonend. „Ich habe“, erklärte 
Balmes selbst später, Inhalt und Tendenz der 
Schrift genau würdigend, „nicht die Verteidigung 
der Königin Christine geführt, an den Personen 
lag mir wenig; ich hielt die gesunden religiösen 
und monarchischen Traditionen aufrecht. Obschon 
bereits damals die Bestrebungen der Revolution 
und der Ehrgeiz Esparteros offenbar wurden, 
behauptete ich doch die Notwendigkeit, daß die 
Regierung in königlichen Händen bleibe. Ich 
drückte mich mit voller Freiheit zugunsten der 
Karlisten aus, indem ich ihren Überzeugungen 
und Absichten Gerechtigkeit widerfahren ließ und 
damals schon erklärte, was ich heute (1848) wieder- 
hole, daß bei uns kein politisches System sich be- 
festigen kann, das nicht jene große Partei als ein 
Element in die Regierung aufnimmt. In dem 
Augenblick, als ich jene Sprache führte, waren die 
Karlisten unterlegen und die Revolution stand in 
voller Kraft.“ 
Hatte Balmes seit der fruchtlosen Erhebung 
der Moderados in der Nacht vom 21. auf den 
22. Juli sich überzeugt, daß es sich in Spanien 
um etwas ganz anderes handle als um dynastische 
Interessen und politische Parteikämpfe, und daß 
deren Obsiegen nach keiner Seite hin mehr die 
Zukunft sichern könne, dann mußten die Ursachen 
so furchtbarer Krankheitserscheinungen tiefer ge- 
sucht werden. Seine beiden ersten politischen 
Schriften, eine strenge Rechenschaftslegung über 
die Wirklichkeit der politischen und sozialen Lage 
Spaniens, waren Pfadfinder seines rastlos ar- 
beitenden Geistes geworden, und mit aller Energie 
auf Studien zurückgreifend, die, in Cervera an- 
geregt, in der jahrelangen Einsamkeit zu Vich 
vertieft wurden, kam er jetzt zur Klarheit, daß den 
Krankheitserscheinungen der Zeit eine Fälschung 
der christlichen Zivilisation zugrunde liege, die 
allein einen wissenschaftlich ausreichenden Grund 
für das beständige Schwanken der modernen Ge- 
sellschaften zwischen Freiheit und Despotie, zwischen 
Fortschritt und Verelendung, zwischen Leben und 
Tod biete. Es handelte sich für Balmes um ge- 
schichtlich-philosophische Forschungen über 
den Entwicklungsgang der modernen Zivilisation; 
sie kamen in Barcelona zum Abschluß, und im 
Jahr 1842 begann die Drucklegung des Werkes, 
welches er unter dem furchtbaren Wechsel der eigenen 
Lebensschicksale und der seiner Umgebung „seinen 
Traum, seine Hoffnung, sein Ideal in dieser Welt“ 
genannt hatte. Das Werk erschien unter dem 
Titel: El Protestantismo comparado con el 
Catolicismo en sus relaciones con la civili- 
zaciôn europea (4 Bde, Barcelona 1842/44, 
*1875): „Protestantismus und Katholizismus 
in ihren Beziehungen zur europäischen Zivili-
	        
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