Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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nahm an, hat seinen Sitz aber nie eingenommen. 
Der Schmerz ganz Spaniens über seinen frühen 
Tod war ein gerechter: Balmes war ein priester- 
licher Charakter in der ganzen Größe des Wortes; 
ein Mann der Wissenschaft, der Frömmigkeit, des 
Opfers, vor dessen makelloser Hoheit auch die 
Gegner sich beugten, dessen Einfluß es in erster 
Linie mit zuzuschreiben ist, daß Spanien nicht 
mehr die Wege des Entsetzens zu wandeln hatte, 
von welchen er es in der verzehrenden Glut seiner 
Liebe zur Kirche und zu seinem Volke abzulenken 
bestrebt war. 
Überblickt man sein Lebenswerk auf allen Ge- 
bieten der praktischen wie der theoretischen Politikund 
Philosophie, so wird man bei tieferem Nachforschen 
unschwer die eine große Idee erkennen, welche 
dasselbe beherrscht: den Kampf gegen die rationa- 
listische und die Verteidigung der christlichen Ge- 
sellschaftsauffassung. Erstere trat ihm 
im Guizotschen Doktrinarismus entgegen, in der 
allgemeinen Skepsis gegenüber den Grundwahr- 
heiten der Religion, in den Verirrungen des philo- 
sophischen Denkens, letztere in der katholischen 
Tradition, in dem übernatürlichen Glauben, in 
der zeitgemäßen Wiederbelebung der scholastischen 
Philosophie. Alle Wahrheit strömte für ihn aus 
einer Quelle, aus Gottes zwiefacher Schöpfung 
im Reich der Natur und der Gnade, aus ihrer 
harmonischen Einheit im Glauben, Lehren, Leben 
der Kirche: alle Erkenntnis hatte für ihn eine 
Norm, die Glaubensregel und die große Tradition 
der katholischen Philosophie; alles Wirken stand 
bei ihm in strenger Abhängigkeit von einem 
Ziel, Spanien seiner katholischen Vergangenheit 
und damit einer glorreichen Zukunft wiederzugeben. 
Hätte er die erste vatikanische Konstitution Dei 
Filius Pius'IX., hätte er die Enzyklika Leos XIII. 
Aeterni Patris (4. Aug. 1879) über die Re- 
stauration der katholischen Philosophie gelesen, die 
Freude hätte ihn überwältigt. Im Lichte dieser 
autoritativen Kundgebungen muß Balmes un- 
zweifelhaft als einer der größten, gottbegnadetsten 
Geister des neueren Katholizismus angesehen wer- 
den. Im Doktrinarismus und seiner Politik er- 
kannte er eine neue Phase des protestantischen 
Geistes, eine Weiterbildung des „Glaubensbekennt- 
nisses des savoyardischen Vikars“, des Contrat 
social, d. h. der Proklamation der Souveränität 
der Vernunft und der Volkssouveränität sowie der 
Umgestaltung aller gesellschaftlichen Ordnung nach 
ihren Forderungen. Diesem letzten Versuch der 
Fortsetzung der revolutionären Emanzipation des 
Menschengeistes des 16. Jahrh. galt seine nie 
ruhende Zurückweisung in den Soziallehren und 
in den politischen Doktrinen, zunächst des eigenen 
Volkes. Wenn ihm trotzdem zu gewissen Zeiten 
und unter gewissen Umständen von seinen Freunden 
eine zu große Nachgiebigkeit gegen die Einrich- 
tungen des modern-politischen Lebens zum Vor- 
wurf gemacht wurde, wie von seinen Gegnern die 
Hinneigung zu reaktionärem Pessimismus, so mag 
  
Balmes. 
  
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dies mit Bezug auf einzelne Außerungen eine 
gewisse Berechtigung haben, nicht so mit Bezug 
auf die Grundlinien seiner Gesamtanschauung. 
Für Spanien forderte er die Herrschaft des katho- 
lischen und des monarchischen Prinzips, da das 
erstere gegenüber den sozialen Umgestaltungen des 
Volkslebens allein eine Macht der Aussöhnung, 
der Ordnung, der Friedigung besitze, das letztere 
allein einer Gesellschaft die Stabilität ihrer Ein- 
richtungen sichern könne. 
Die Weltpolitik der modernen Zeiten hat mit 
den dreifachen, von ihr angenommenen Axiomen 
der Regierungskunst: dem Interessen- und 
Parteikult, der Zentralisation, der den Körper 
schwächenden, den Geist erniedrigenden Erziehungs- 
methode, nur die Herrschaft der universalen Knech- 
tung proklamiert. Der Katholizismus ist allein 
noch die retiende Macht, da er den Dingen dieser 
Zeit das rechte Maß in der übernatürlichen Be- 
stimmung alles sozialen Lebens geben kann, weil 
er allein die durch die universale Revolution in der 
Volksseele geschaffene Leere auszufüllen vermag. 
Was Balmes in dieser Hinsicht über die Grund- 
elemente alles sozialen Lebens, die Individualität, 
Arbeit, Eigentum, Ehe, Jungfräulichkeit, Liebe, 
geschrieben, scheint uns mit das Vollendetste zu 
sein, was hohe Vernunft und seltene Zartheit des 
Herzens eingegeben. Das gleiche gilt bezüglich der 
Institutionen und ethischen Grundanschauungen 
des Katholizismus, z. B. der religiösen Orden. 
„Wenn der Gesellschaft Auflösung droht, dann 
helfen nicht Werke, Pläne, Gesetze, sondern starke 
Institutionen, die den Leidenschaften, der Un- 
beständigkeit des Menschen, den zermalmenden 
Schlägen der Ereignisse widerstehen. Institutionen 
tun not, um die Intelligenz zu bilden, das Herz 
zu beruhigen und zu veredeln, um eine Bewegung 
des Widerstands und der Reaktion inmitten einer 
Gesellschaft herbeizuführen, deren verderbliche Ele- 
mente letztere dem Tod überantworten.“ 
Angesichts der modern-revolutionären Erschüt- 
terung der Gesellschaft hat jede wahrhaft konser- 
vative Politik auf die Befestigung und Erhaltung 
jener beiden Sozialmächte hinzuarbeiten, welche 
in den modernen Nationen allein noch die Volks- 
einheit und Volkseinigkeit retten können: Katholi- 
zismus und Monarchie. Dies gilt insbesondere 
für Spanien; die Revolution ist für dasselbe 
eine „Überraschung“ gewesen; die größte Wider- 
standskraft ist und bleibt noch der Katholizismus, 
zumal das zwischen einer starken monarchischen 
Gewalt und dem Volk vermittelnde Glied einer 
fest organisierten Aristokratie fehlt, welche die 
Demokratie vor Ausschreitungen bewahrt. Die 
Kritik der gegenwärtigen spanischen Verfassung 
führt Balmes zu der Forderung: Befestigung und 
Stärkung der Erbmonarchie um der Ordnung, 
der Stabilität und einer Anwendung der politischen 
Gewalt willen, welche mit Wohlwollen die Aus- 
einandersetzung von Aristokratie und Demokratie 
auf Grund der spanischen Verfassung vor Karl III.
	        
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