Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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die universalste und notwendigste Forderung der 
Neuzeit hinstellte. Die wachsende Einsicht, daß 
die Juliregierung in der Befriedigung der pluto- 
kratischen Instinkte der herrschenden Bourgeeisie 
sich mehr und mehr untergrabe und nur der ent- 
schiedenste Kampf, zunächst zur besseren Orien- 
tierung der irregeleiteten öffentlichen Meinung, 
gegen diese Exzesse und die allgemeine Korruption 
helfen könne, befreundete ihn nach und nach mit 
dem Entschluß des persönlichen Eingreifens. Nach 
45 Jahren der Zurückgezogenheit, der Meditation 
und endloser Studien folgen nun 4 Jahre großer 
publizistischer Tätigkeit, die zwar ausreichten zur 
Grundlegung seines Systems, aber nicht zu dessen 
Vollendung. 
Die Wendung fällt in das Jahr 1844; den 
Anlaß dazu bot die große Freihandels- 
bewegung in England unter Richard Cobden 
(seit 18¾41). Im Anschluß an die Darlegung der- 
selben in der englischen Zeitschrift The Globe and 
Traveller schrieb Bastiat 1844 im Journal des 
Economistes die Aufsätze: De PTinfluence des 
tarifs frangais et anglais sur Tavenir des 
deux peuples; Sophismes économiques ou 
Tagitation anglaise (Par. 1846, 1851); Cob-- 
den et la ligue ou T’agitation anglaise pour 
laliberté des Cchanges (Par. 1845, 1848). Für 
letztere, mit einer Einleitung neu herausgegebene 
Schrift ernannte ihn das Institut de France zum 
korrespondierenden Mitglied. Bereits im Jahr 
1846 schritt er nach dem Vorgang Cobdens zur Bil- 
dung einer französischen, über das ganze Land aus- 
gebreiteten Liga, deren Generalsekretär er wurde, 
und gründete als deren Organ, nachdem er 
die ihm angetragene Redaktion des Journal des 
Economistes ausgeschlagen, die Zeitschrift Libre 
Echange. Dem nun fest erfaßten Beruf ganz 
folgend, zog er, so schwer es ihm wurde, nach 
Paris. Ein neues Leben begann jetzt. Für ihn 
sollte, wie er an Cobden schrieb, die National-= 
ökonomie, die Wissenschaft vom physischen Wohl- 
ergehen der Massen, die Vorstufe ihrer sittlichen 
Erhebung werden. „Was mich anlangt, so ver- 
lange ich nichts, will nichts. Aber wenn es sich um 
die Massen handelt, so habe ich nicht diese stoische 
Geringschätzung für den Reichtum. Dieses Wort 
besagt nicht einige Taler mehr; es bedeutet Brot 
für die, welche Hunger haben, Kleider für die, 
welche Kälte leiden; es bedeutet Erziehung, Un- 
abhängigkeit, Würde.“ In den Kämpfen um die 
Unterrichtsfreiheit erhob er sich zugleich gegen das 
Universitätsmonopol, „welches nur mit der Un- 
fehlbarkeit vereinbar sei“; ebenso für absolute 
Kultusfreiheit; das laissez-faire, laissez-passer 
blieb auch hier die Formel seines Systems. Als 
Lamartine ihn 1847 in Marseille neben Richard 
Cobden und J. W. Fox als den größten Kämpfer 
„für das neue Evangelium der Emanzipation der 
Arbeit“ begrüßte, hatten die ersten Anfälle der 
Todeskrankheit ihn schon ergriffen. An Cobden, 
damals in Italien, hatte er (10. Jan. 1847) ge- 
Bastiat. 
  
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schrieben: „Das Monopol oder dein Freund ist 
auf dem Weg zum Pere-Lachaise.“ 
Die Revolution von 1848 rief Bastiat in die 
Konstituierende Versammlung: er wollte seine letzte 
Kraft einsetzen, um mittels seines Okonomismus 
bessere Existenzbedingungen für die Volksmassen 
zu erringen. Als sich in den Junitagen der blutige 
Sozialismus erhob, schrieb er (24. Juni) im 
tiefsten Schmerz über diese brutale Zerstörung sei- 
ner besten Ideale: „Frankreich wird eine Türkei!“ 
eine Befürchtung, auf die er am 29. Febr. bereits 
mit den Worten hingewiesen hatte: „Seit zehn 
Jahren dringen absurde Illusionen in die arbei- 
tenden Klassen ein. Jetzt sind dieselben überzeugt, 
daß der Staat verpflichtet ist, allen Brot, Arbeit, 
Unterricht zu geben.“ Trotz seines leidenden Zu- 
stands erhob er sich mit unerwarteter Kraft zur 
Organisation des Widerstands. Am Vorabend 
der blutigen Junitage forderte er (im Art. Jacques 
bon homme) die Entwaffnung der insurrektio- 
nellen Arbeiter; mit Todesverachtung suchte er 
den Füsilladen in Faubourg Saint--Antoine die 
unglücklichen Opfer zu entreißen; als Vizepräsident 
des Finanzkomitees der Kammer trat er „den 
despotischen Praktiken derer, welche unter dem 
Vorwand, dem Volk Genugtuung zu verschaffen, 
wollen, daß der Staat sich der Eisenbahnen, Ver- 
sicherungen, Transportmittel usw. bemächtige“, 
mit der Erklärung entgegen, er werde nie „für 
eine durch das Gesetz regularisierte und durch den 
Steuerzettel exekutierte Spoliation“ sein. Wie 
kein anderer die ökonomistischen Sophismen des 
Sozialismus durchschauend, griff er jetzt mit sel- 
tener, unübertroffener Energie in die Bewegung 
ein in dem mit Castille, Molinari u. a. 1848 
begründeten Volksblatt La République Fran- 
cçaise und in einer langen Reihe von Publi- 
kationen, welche die beiden folgenden Jahre ganz 
absorbierten und deren zum Teil wahrhaft klas- 
sische Vollendung seinen Namen über ganz Europa 
berühmt machte. In Propriété et loi, Justice 
et fraternité (Par. 1848) griff er den neuen 
ökonomischen Sozialismus direkt in seinen Haupt- 
dogmen an; in Protectionisme et communisme, 
Lettre à Mr. Thiers (Par. 1848) suchte er die 
Verwandtschaft beider Theoreme darzutun; in 
Capital et rente (Par. 1849) wandte er sich 
gegen die Theorie von der Ungerechtigkeit des 
Zinses; in Paix et liberté ou le budget ré- 
publicain forderte er eine Beschränkung des Ge- 
schäftskreises der Regierung und ihrer Ausgaben, 
in Incompatibilités parlamentaires die Un- 
fähigkeitserklärung der Mitglieder der National- 
versammlung zur Bekleidung der Ministerstellung; 
in L'Etat protestierte er gegen den Staat als den 
Helfer in Wirtschaftsnöten, in Maudit argent 
gegen die Verwechslung von Geld und Reichtum. 
Die vier letzteren Schriften fallen auf das Jahr 
1849, dazu traten 1850 noch die feine Satire 
auf Proudhons Kredittheorie Gratuité du crödit 
(ogl. über diese und die damaligen Hauptpositionen
	        
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