Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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einen „Appell an die resignierte Verzweiflung“ 
erscheinen ließ; wenn er dem sozialen Mechanis- 
mus in seiner schrankenlos freiheitlichen Entwick- 
lung bis zur vollendeten Sicherung der allgemeinen 
Handelsfreiheit die erlösende Kraft aus diesen 
Widersprüchen zuschrieb: so waren das Illusionen, 
welche in seiner naturalistischen Anschauung vom 
Menschen und von der Gesellschaft wurzelten und 
deren volle Uberwindung nur vom Standpunkt 
der christlichen Offenbarungslehre möglich ist. 
Bastiats Bedeutung ruht mehr in der durch 
sein Leben und seinen Geistesgang angebahnten 
Rückkehr zu letzterer als in der Begründung neuer 
wissenschaftlicher Ansichten. Er war einer der 
ersten, welche in der tieferen Erforschung der 
wirtschaftlichen Zusammenhänge die Solidaritäts- 
idee in der Nationalökonomie betonten und letztere 
ihrer abstrakten Isolierung als Wissenschaft ent- 
rissen. Nicht die Gesetze der Produktion, des 
Tausches und der Konsumtion, die gesteigerte 
Produktivität der Arbeit, die Anhäufung von 
Gütern und Geld sei das Ziel der Volkswirtschaft, 
sondern „Harmonie“, Annäherung, Vervollkomm- 
nung, Ausgleichung der Wirtschaftsinteressen, die 
freilich erst aus der unbehinderten freiesten Ent- 
faltung der „Naturgesetze“ erstehen könne. Daß 
dies mit den angegebenen Mitteln, auf unbe- 
stimmten, ungangbaren und falschen Wegen un- 
möglich sei, ahnte Bastiat immer mehr, aber zur 
Einsicht, daß die von ihm erstrebte Interessen- 
harmonie nur aus der organischen Verbindung 
der Volkswirtschaft mit der Sozialwissenschaft und 
der Moral erblühen könne, ist er nicht vorge- 
drungen. Ihm fehlte nicht der Sinn für die 
pflichtmäßige Rücksicht auf das Gemeinwohl, für 
die Unterordnung der Privatinteressen unter die 
Gesamtinteressen, wohl aber zur Unterordnung 
des wirtschaftlichen Forschens und Handelns unter 
das Gebot der sittlichen Pflicht, unter das Gebot 
des Rechts. Es bleibt ihm immerhin das Ver- 
dienst, nach dieser Richtung ein Bahnbrecher der 
neueren Okonomie in seinem Vaterland und dar- 
über hinaus gewesen zu sein. 
Seine Stärke war die hohe, ihm in seltenem 
Maß eigene Kunst der Popularisierung 
seiner Wissenschaft, namentlich in der Bekämp- 
fung weit verbreiteter Vorurteile und Irr- 
tümer; dadurch und durch die Klarheit, Anmut 
und begeisterte Kraft seiner Darstellungsweise hat 
er namentlich auch in Deutschland (s. u.) in den 
weitesten Kreisen den Einfluß seiner Anschauung 
zur Geltung gebracht, leider zur Befestigung und 
zum vollendeten Durchbruch der Manchesterdoktrin, 
die zur gegenwärtigen Reaktion der staatssozia- 
listischen und radikal = sozialistischen Bewegung 
führen mußte. 
Was insbesondere die Stellung Bastiats zum 
Sozialismus anlangt, so war er einer der 
ersten und wenigen, welche die Wandlung der so- 
zialistischen Doktrin seit der Julirevolution in 
ihrer ganzen Bedeutung erfaßten: aus der sozia- 
Bastiat. 
  
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listischen Utopie wurde, namentlich durch den Ein- 
fluß Auguste Comtes und der positivistischen 
Schule, der sozialistische Okonomismus, und gegen 
dessen Sophistik setzte er die ganze Kraft seines 
reichen Geistes ein. Freilich konnte Bastiats 
glänzende Abwehr — und sie ist bis heute der 
einzige rein wissenschaftliche Versuch von größerer 
Bedeutung von seiten des liberalen Okonomismus 
geblieben — nicht zum Ziel führen; denn es 
handelte sich beiderseits um die Verteidigung 
irriger Prinzipien, hier der absolut freiheitlichen, 
dort der revolutionären Wirtschaftsgestaltung. 
Immerhin bleibt für Bastiat die energische Auf- 
nahme des Kampfes gegen letztere, die Geradheit 
seines Kampfes, mit der er den Appell an die 
Gewalt verschmähte, die Zuversicht auf die Kraft 
seiner eigenen Mittel und seine Liebe zur Ord- 
nung ein Ruhmestitel. 
Hinsichtlich der spezifisch ökonomischen 
Theorie und ihrer Weiterentwicklung ist die 
Bedeutung Bastiats bestritten, namentlich in 
Bezug auf seine Bekämpfung der Malthusschen 
Bevölkerungstheorie und der Ricardoschen Lehre 
von der Bodenrente. Die Frage der Priorität 
der hier entwickelten Ideen im Hinblick auf die 
Forschungen des Amerikaners Carey (s. d. Art.) 
ist eine müßige, wie Mangold (in Bluntschlis 
Staatswörterb. I 675) zutreffend zeigt. Es ist 
daran zu erinnern, daß Bastiat zum Abschluß 
seiner ökonomischen Doktrin nicht Zeit gefunden 
und das Vorliegende nur vom Standpunkt seiner 
Ideenentwicklung (s. o.) beurteilt werden darf. 
Am besten ausgebildet tritt uns seine Darlegung 
der Freihandelslehre entgegen, deren Ein- 
wirkung auf die liberale Doktrin noch heute fort- 
dauert. Von ihrer entschlossenen Durchführung 
hoffte er die endgültige Lösung aller Schwierig= 
keiten für seine Wert-- und Tauschtheorie, für seine 
Geld= und Kreditorganisation, für seine originelle 
Lehre von den Absatzwegen. Allein wie in seinem 
ganzen System, irrt Bastiat auch hier durch seinen 
absoluten Freiheitsformalismus, welcher den 
Grundcharakter der Frage als einer praktischen 
verkennt. Bastiats Grundsatz: „Der Freihandel 
ist wahr im Prinzip“, ist ein Irrtum, indem es 
sich nach den eigenen Anschauungen Bastiats 
nicht um ein einziges Prinzip handeln kann, da 
hier das dreifache Prinzip der privaten, inter- 
nationalen und nationalen Okonomie seine prak- 
tische Lösung fordert. So schwierig diese Lösung 
im gegebenen Fall ist, darf man sie nicht auf 
Grund einer falschen, unvollständigen Idee suchen 
und lieber eine Industrie als ein vermeintliches 
Prinzip zugrunde gehen lassen. In der Kritik 
der verschiedenen Handelssysteme, des Merkantilis- 
mus und der Handelsbilanz, des Prohibitiv- 
söstems der Colbertschen Schule, besonders des 
transitorischen Schutzsystems, selbst des gemäßigten 
Freihandels, entfaltet Bastiat außerordentlichen 
Scharfsinn zum Zweck der Rechtfertigung des 
absoluten Freihandels ohne Transaktion irgend
	        
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