Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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welcher Art und läßt nur für den Import solche 
fiskalische Taxen zu, welche den Charakter einer 
Steuer, aber nicht den eines Schutzes der eigenen 
Industrie haben; von Kompensationsrechten, Aus- 
nahmerechten gewisser Industrien usw. will er nichts 
wissen. Er verkennt dabei unseres Erachtens die 
beiden Grundforderungen einer ebenso praktischen 
wie den wahren öffentlichen Interessen entsprechen- 
den Handelspolitik: daß nämlich an der Freiheit 
des Austausches als einer Forderung der heutigen 
Wirtschaftsentwicklung, des internationalen Ver- 
kehrs, des industriellen Mechanismus, der Wohl- 
feilheit der Produkte, des Ausgleichs in der Ver- 
schiedenheit der Produkte usw. nur so lange fest- 
zuhalten ist, als die Teilung der Menschheit in 
Nationen, ihr gesondertes Recht der Existenz, ihre 
Unabhängigkeit, ihre besondern Interessen und 
ihre historische Regierungsweise nicht in Frage 
stehen. Wo die nationalen Lebensinteressen eine 
Einschränkung der Freiheit fordern, kann das 
internationale Wohlwollen, welches ein Prinzip 
des christlichen Völkerrechts ist, nicht das Opfer 
der eigenen Unabhängigkeit und wirtschaftlichen 
Selbständigkeit einer Nation fordern. Im Gegen- 
teil rechtfertigt die Pflicht der Erhaltung und 
Vervollkommnung eines nationalen Organismus 
das Opfer des auswärtigen Produzenten und des 
einheimischen Konsumenten. Wie hinsichtlich dieser 
prinzipiellen Grundlagen einer gesunden Handels- 
politik, irrte Bastiat auch in Aufstellung gewisser 
allgemeinen Normen für die Behandlung der hier 
entstehenden komplizierten Fragen. Das Interesse 
gewisser blühenden Landesindustrien darf keines- 
wegs mit dem allgemeinen Interesse verwechselt 
werden. Der Schut der ersteren bedeutet oft nur 
den Profit einer mehr oder weniger einflußreichen 
Gruppe, steigert die Preise, drückt die andern 
Industrien und gestaltet sich zu einer Schädigung 
des nationalen Lebens. Hinsichtlich der Mehr- 
belastung der Konsumenten muß die Größe des 
ihnen auferlegten Opfers und die Größe des na- 
tionalen Interesses wohl abgewogen werden; da- 
bei darf man die Solidarität aller nationalen 
Produktion und ihrer Industrien nicht übersehen. 
Endlich muß zwischen transitorischer und dauernder 
Belastung stets ebenso gewissenhaft unterschieden 
wie die jeweilige Lage des ausländischen Marktes 
(Tarifsystem) geprüft werden: alles Momente, 
die Bastiats Spekulation wohl erfaßt, aber seiner 
Theorie geopfert hat. 
Fassen wir unser Urteil über Bastiat zusam- 
men, so möchten wir sagen, daß er trotz seiner 
Irrtümer, seiner veralteten Thesen, seines ideali- 
stischen Formalismus in der Wissenschaft wie im 
Leben ein Charakter war, dessen hochstrebender 
Ideengang, dessen Aufrichtigkeit, Hingebung an 
das öffentliche Wohl, dessen herbes Lebensschicksal 
auch die Sympathien derer finden kann, die von 
seiner Doktrin nicht zu überzeugen sind. In der 
Lehre seines Lebens und Beispiels, daß das Inter- 
esse weder der einzige Führer noch das höchste Ziel 
Bauernstand. 
  
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der Menschen sein kann, daß letzteres in der Re- 
ligion und Moral auch für den Bereich der Wirt- 
schaftswissenschaft beschlossen liegt, dürfte er eine 
hohe, in gewisser Hinsicht einzige Stelle unter den 
modernen Okonomisten einnehmen. Unter denen 
der französischen Schule dürfte er neben Quesnay 
und Say als der bedeutendste insofern erscheinen, 
als in ihm die Ohnmacht des ökonomistischen 
Sensualismus gegenüber dem Sozialismus und 
die Rückkehr der Wirtschaftslehre zu christlichen 
Grundanschauungen am siegreichsten neben de 
Rossi zutage getreten ist. 
Literatur. Die Schriften B.s sind in dem 
Sammelwerk der klassischen Okonomisten bei Guil- 
laumin zuerst 1854 in 6, dann 1872 in 7 Bänden 
zu Paris erschienen (Euvres completes de Fré- 
déric Bastiat). Der 1. Band enthält eine aus- 
führliche Notiz über sein Leben u. seine Schriften 
von R. de Fontenay. Die Lettres d'un habitant 
des Landes erschienen 1877 (Par.). Weitere No- 
tizen über sein Leben u. seine Schriften bei Moli- 
nari (Journal des Economistes, Bd 28, 1851), 
Fredéric Passy (Par. 1855), Paul Gardelle (Pan 
1879), Baunard (La Foi II [Par. 1884) 109). 
Ülber seine Lehren vgl. insbes. Perin, Les doctrines 
éGconomiques (ebd. 1880) 725 ff. In Deutschland 
ist bes. die Auswahl seiner kleineren Schriften durch 
Bergius (Ausgewählte volkswirtschaftl. Schriften 
(2 Bde, 1859) bekannt; außerdem: Die Trug- 
schlüsse der Schutzzöllner gegenüber der gesunden 
Handelspolitik, deutsch von C. Noback (1847); 
Die Volkswirtschaft für jedermann und sechs volks- 
wirtsch. Trugschlüsse des Herrn B., bearb. von C. 
Junghanns (1848). Die kleineren Schriften: Ka- 
pital u. Verzinsung, Zollschutz u. Kommunismus, 
Der Staat, Das verwünschte Geld, gab (1849) der 
Verein zur Verbreitung volkswirtsch. Kenntnisse 
heraus. Die Volkswirtsch. Harmonien bilden den 
1. Band von Prince Smiths Nationalökonom. 
Bibliothek (1850). Die Schriften: Was man sieht, 
u. was man nicht sieht, oder die polit. Okonomie 
in einer Lektion, Frieden u. Freiheit oder das 
Budget, Der Krieg gegen den Lehrstuhl der polit. 
Okonomie, übersetzte Bergius (1853). Vgl. über 
die Kritik der Einzellehren B.s in seiner Gesamt- 
würdigung H. Peschs Lehrbuch der Nationalökono- 
mie 1 (1905) 359 f u. 406 f). [Weinand.] 
Bauernstand. I. Begriff. Ein Bauern- 
gut ist ein zur Betreibung von Ackerbau und Vieh- 
zucht bestimmtes ländliches Anwesen, das in der 
Regel nur vom Wirt selbst und dessen Familie 
bestellt wird, aber deren Arbeitskraft auch voll- 
ständig in Anspruch nimmt, somit ohne gewerb- 
lichen und taglöhnerischen Nebenverdienst eine 
Familie zu nähren imstande ist. Die Besitzer 
solcher Güter nennen wir Bauern. Freilich kommt 
oft die Größe des Besitzes weniger in Betracht 
als die Anschauung in den einzelnen Gegenden. 
Ein Gut von 50 ha wird man z. B. in Westfalen 
noch zu den bäuerlichen Besitzungen rechnen, in 
Süddeutschland dagegen zum Großbetrieb. Mit- 
hin wird auch das Halten von 1 bis 2 Knechten 
und Mägden nicht immer ausschlaggebend sein; 
dagegen dürfte in der Regel der Umstand, ob der
	        
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