Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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drohten die Dorfgerichte ins Stocken zu geraten. 
Der Reichstag zu Augsburg versetzte sie daher im 
Dez. 1525 insoweit in ihren vorigen Stand, daß 
sie an den Gerichtssitzungen sollten teilnehmen 
können. — Der Bauernkrieg war es, der die 
gutsherrliche Polizei schuf. An die Stelle der 
alten Hofsprachen und genossenschaftlichen Ge- 
richte traten nach und nach Patrimonialgerichte, 
und die Entscheidung von Streitfragen fiel in 
die Hände römisch-rechtlich urteilender Juristen. 
Diesen erschien die auf Ergänzung durch gute 
Sitte und Herkommen berechnete Unklarheit der 
deutschrechtlichen Verhältnisse vielfach als Bar- 
barei, freies Eigentum des Herrn, servitus des 
Bauern als der natürliche Zustand und die An- 
nahme der Ungemessenheit der Fronden als das 
Richtige. Nicht an den freiesten, sondern an den 
unfreiesten seiner Untertanen nahm der Gutsherr 
seinen Maßstab, und die Revisionen der Hofrechte 
fielen immer ungünstiger für die Bauern aus. So 
wurde denn die Rechtsstellung der landarbeiten- 
den Klassen in eine Hörigkeit verwandelt, welche 
im Vergleich mit dem noch im Mittelalter Er- 
reichten jetzt immer allgemeiner als eine Ver- 
schlimmerung bezeichnet wird. Gerade der zweiten 
Hälfte des 16. Jahrh. gehören die Ausbreitung 
der ungemessenen Fronden, die Überbürdung des 
Bauernstands mit allen neu aufkommenden 
Staatslasten, die Entstehung der neueren Leib- 
eigenschaft, die Anfänge zu völliger Legung der 
Bauerndörfer hauptsächlich an. Man kann diese 
Verschlimmerung in den meisten deutschen Terri- 
torien so lange beobachten, bis die immer mehr 
wachsende landesherrliche Macht es ihrem eigenen 
Interesse entsprechend fand, die Bauern zu schützen. 
Die dem Bauernstand wenig günstige Rechts- 
entwicklung des 16. und 17. Jahrh. wurde noch 
durch andere, wirtschaftliche Umstände geför- 
dert. Die im Bauernkrieg zerstörten Burgen baute 
der Adel nicht wieder auf, er zog in seine Pacht- 
höfe herab und trachtete aus Bauerngütern, Wü- 
stungen und Rodungen größere Güter zusammen- 
zulegen. Manche Bauernhufe war verlassen, weil 
der Bauer erschlagen oder entflohen war; andern 
Herrschaften gelang es, durch Kauf oder Tausch 
die Streuhaufen zusammenzuziehen. Mit der Ein- 
richtung größerer Wirtschaften hing es ferner zu- 
sammen, daß man begann, für diesen Zweck die 
Bauern mit Strenge zu Diensten anzuhalten, daß 
die noch vorhandenen Marken und Forsten auf 
Grund des gutsherrlichen Obereigentums in Be- 
schlag genommen und die Nutzungen der Bauern 
als „Servituten“ auf den Bedarf abgegrenzt wur- 
den. Oft wurden, selbst wenn (was die Regel) 
keine Lastensteigerung stattfand, doch die Hufen 
nachgemessen und die Zinsen nach dem etwaigen 
Mehr, das sich fand, erhöht. — Die mehr und 
mehr absolute Fürstenmacht gewinnenden deutschen 
Reichsstände überließen lange den Bauern dem 
Mdel zur wirtschaftlichen Ausnutzung. Die Stände 
gelangten der Monarchie gegenüber in eine Stel- 
Bauernstand. 
  
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lung, welche im Sinn der Zeit das persönliche 
Vorrecht der Aristokratie in hohem Grad begün- 
stigte. Bei ihrer Einwilligung in die immer höher 
steigenden finanziellen Ansprüche schien die steuer- 
liche Abwälzung auf die Bauern als selbstver- 
ständlich. Die Freiheit der Kirche beider Kon- 
fessionen war verloren gegangen und damit ihre 
soziale Macht, die sie noch stets zum Schutz der 
unteren Stände angewendet hatte. 
Besonders nachteilig wurde der Integrität so- 
wohl wie der Freiheit des Bauernstands der Drei- 
ßigjährige Krieg: viele Bauernschaften verödeten, 
und die glebae adscriptio trat in ihre Blütezeit. 
Auch die Rittergutsbesitzer hatten gelitten, aber 
nach Beendigung des Kriegs war es ihnen leichter, 
sich wieder wirtschaftlich emporzuarbeiten, sie ge- 
boten über größere Mittel, fanden leichter Kredit 
und besaßen in den ihnen untergebenen Bauern 
Arbeitskräfte, die sie in immer höherem Maß inner- 
halb ihrer Gerichtsbarkeit festzuhalten trachteten. 
Die nach dem Dreißigjährigen Krieg von Guts- 
herrschaften angesiedelten Bauern halten übrigens 
den Vergleich mit den alten selbständigen Bauern 
nicht aus. Die Gutsherrschaft setzte die Bauern 
nicht an, um dem Staat nützliche Untertanen zu 
verschaffen, sondern um den fronenden Arbeiter 
wieder zu haben. Nach den Bauernkriegen ver- 
schwanden Bauernhufen nicht deshalb, weil der 
Herr sie einzog, sondern weil der Bauer erschlagen 
oder entflohen war. Jetzt, im 17. Jahrh., wurde 
der Bauer schon ganz als eigen und vertreibbar 
betrachtet. Die alte Freizügigkeit der Bauern ge- 
riet ganz in Vergessenheit. Als man im 18. Jahrh. 
den sog. Ortenauer Vertrag wieder auffand, da 
war man ganz erstaunt, aus ihm zu ersehen, daß 
im 16. Jahrh. die Bauern überhaupt von einer 
Landesherrschaft zur andern gezogen seien. — Auch 
die Unteilbarkeit der Bauerngüter scheint im 
Mittelalter weit weniger durch positive Gesetze als 
durch die Sitte (Stärke des Familiensinns, Ab- 
wesenheit des Kapitalismus) aufrecht erhalten 
worden zu sein. Die strenge und zwangsweise Ge- 
schlossenheit der Bauernstellen, wie sie in den letzten 
zwei Jahrhunderten in den meisten deutschen Land- 
schaften bestand, wurde wesentlich eingeführt, um 
das Interesse der Herrschaft an Diensten und Ab- 
gaben zu wahren. 
Die wirtschaftliche Lehre des absoluten 
Staats, der sog. Merkantilismus, wendete der 
Landwirtschaft wenig Sorgfalt zu, und die später 
sog. physiokratische Lehre war in vielen Stücken 
eine Reaktion dagegen. Nur allmählich, am Ende 
des 17. und besonders im 18. Jahrh., verbreitete 
sich mit dem Wachsen der Landeshoheit die Ein- 
sicht, daß ein kräftiger Bauernstand ein Gegen- 
gewicht gegen die mittelalterliche Aristokratie bilde. 
In dieser Hinsicht verdienen die klugen preußischen 
Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. 
genannt zu werden, die sich die Erhaltung eines 
leistungsfähigen Bauernstands und die Verhütung 
der Latifundienbildung angelegen sein ließen. Be- 
 
	        
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