Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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sonders seit Einführung allgemeiner Landessteuern 
und seit dem Aufkommen stehender Heere inter- 
essierten sich die Fürsten für die Bauern und nahmen 
sie der Macht des Adels gegenüber mehr und mehr 
in Schutz. Die vielen Staatsgesetze, welche für 
die Erhaltung der Bauernhöfe im Besitz des 
Bauernstands wirkten, zeigen, daß es dem Ge- 
meinwesen nicht gleichgültig schien, ob der Bauer 
leistungsfähig blieb oder nicht. Willkürliche Ent- 
setzung (in Osterreich Abstiftung) oder Lasten- 
erhöhung seitens der Grundherren wird verboten. 
Es besteht die Pflicht, leer gewordene Höfe binnen 
Jahresfrist wieder zu besetzen. Bei unverschuldeten 
Unfällen des Bauern zwang der Staat den Guts- 
herrn zur Remission. Nicht bloß die gutsherrliche 
Praxis, auch die Territorialgesetzgebung beschränkte 
und hinderte das freie Verschuldungsrecht. Viele 
Domänen wurden im 18. Jahrh. zerschlagen und 
in Erbpacht ausgetan, um die Zahl der militär- 
und steuerfähigen Bauern zu erhöhen. 
Dieselbe kameralistische Staatspraxis, die so 
viel für die Erhaltung des Bauernstands tat, 
war es aber auch, welche die spätere Mobilisie- 
rung des Grundeigentums wenigstens vorbereitete. 
Die nach Verstärkung der Staatskräfte strebende 
Monarchie des 17. und 18. Jahrh., verständige 
Machthaber, Könige und Fürsten nahmen den 
Gedanken der Landesverbesserung selbst in die 
Hand und suchten der Mischung von Anrechten, 
die unter den obwaltenden Umständen in der Tat 
zu Hindernissen der Landeskultur geworden waren, 
im Sinn des Individualismus entgegenzuarbeiten. 
In dieser Richtung war es besonders England, 
das die Aufmerksamkeit der französischen Enzyklo- 
pädisten, Physiokraten und Friedrichs II., des 
Schöpfers des neueren deutschen Separationsver- 
fahrens, auf sich zog. Letzterer führt die Idee der 
Gemeinheitsteilungen, die er ins Leben zu rufen 
begann, selbst auf die Erfolge der seit 1689 in 
England unternommenen Separationen zurück. 
In den meisten Ländern bedurfte es großer poli- 
tischer Stürme, um die Anderung der Agrarver- 
fassung, die Ablösung der bäuerlichen Lasten, 
Mobilisierung des Grundeigentums usw. ganz 
durchzuführen. In Frankreich war es die Revo- 
lution von 1789 ff, in Preußen die Katastrophe 
von 1806, in den übrigen deutschen Staaten die 
Bewegung von 1820, dann besonders jene des 
Jahres 1848. 
Die französische Revolutiorn beseitigte 
die Vorrechte des Adels, die persönliche Unter- 
tänigkeit der Landleute, erklärte alle dinglichen 
Leistungen ablösbar, alle herrschaftliche Gerichts- 
barkeit, Jagd= und Fischereigerechtigkeit für auf- 
gehoben und drang auf Verwandlung der herr- 
schaftlichen Fruchtzehnten in Geldpreise. Nächst 
Frankreich ging kein Staat so rasch, durchgreifend 
und rücksichtslos an die Verwirklichung des ent- 
sprechenden Ideenkreises wie Preußen. Ein nicht 
unbedeutender Unterschied in der Behandlung der 
Bauerngüter lag jedoch in folgendem: Die in 
Staatslexikon. I. 3. Auft. 
Bauernstand. 
  
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Frankreich 1794 erfolgte unentgeltliche Aufhebung 
aller Grundrenten, die nicht Kapitalzinsen waren, 
beschränkte sich nur auf Grundstücke, die im Eigen- 
tum, Erbpacht= oder Erbzinsrecht des Bauern 
standen. Die nicht erblichen Besitzrechte des alten 
Agrarwesens erhielten den Charakter der Zeit- 
pacht. In Preußen dagegen wurden alle dem 
deutschen Recht geläufigen Leihverhältnisse, selbst 
Zeitpacht, falls sie innerhalb des gutsherrlichen 
Verbandes bestand und herkömmlich als bäuerlich 
anzusehende Stellen zum Gegenstand hatte, in 
Eigentum des Beliehenen umgewandelt. Die ein- 
schlägigen Gesetze waren die Edikte vom 9. Okt. 
1807 und 14. Sept. 1811, die Ablösungsordnung 
vom 7. Juni 1821 und das Reallastenablösungs- 
gesetz vom 2. März 1850. Durchgreifend wurde 
erst in diesem letzten Gesetz die Eigentumsregulie- 
rung der nicht erblichen Stellen ausgesprochen. 
Als regulierungsfähiger Besitzer wurde betrachtet, 
wer das Grundstück bei Verkündigung des Ge- 
setzes vom 9. Okt. 1848, das alle einschlägigen 
Preozesse sistierte, besaß. Der Wert der Stelle und 
die Leistungen und Gegenleistungen wurden ge- 
schätzt und berechnet. Das Plus der Leistungen 
war dem Gutsherrn als jährliche Rente zu zahlen 
oder abzulösen. Der Stellenbesitzer kann fordern, 
daß diese Rente nicht mehr als zwei Drittel des 
gesamten geschätzten Reinertrags der Stelle be- 
trage. Das Eigentum ging mit der rezeßmäßigen 
Feststellung der Rente auf den Stellenbesitzer über. 
— Der Einfluß der über ganz Deutschland zer- 
streuten preußischen Gebiete entschied tatsächlich die 
Zustände in den deutschen Nachbarstaaten. Voll- 
ständig durchgreifende Gesetzgebungen, welche eine 
volle Lösung der gegenseitigen Verpflichtungen 
herbeizuführen vermochten, ergingen jedoch meist 
erst in den 1850er Jahren. Allenthalben wurde 
die Lösung des agrarischen Verbandes in der 
Weise vorgenommen, daß der Bauer ganz oder 
zum großen Teil das von ihm nach einem der 
älteren Rechtsverhältnisse besessene Land als freies 
Eigentum zugesprochen erhielt und daß die Vor- 
rechte der Grundherren und die überkommenen 
Leistungen der Bauerngüter auf ihren wirtschaft- 
lichen Wert reduziert und berechnet und in ablös- 
bare Reallasten als Entschädigungsrenten um- 
gewandelt wurden. — War so die Separation 
der Bauerngrundstücke von der Fläche der Ritter- 
güter sowie überhaupt die Ablösung der eine 
selbständige landwirtschaftliche Melioration hem- 
menden wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der 
bäuerlichen und der Gutsfläche und den Bauern- 
wirtschaften untereinander die Hauptaufgabe der 
älteren preußischen Separationsgesetzgebung ge- 
wesen, so wurde später insbesondere der Vor- 
teil der Verminderung der Einzelpläne, die Zu- 
sammenlegung der Grundstücke ins Auge 
gefaßt. 4 
Nur eine andere Seite der Durchführung des 
Prinzips des abstrakten individuellen Eigentums 
in Bezug auf Grund und Boden ist die Freiheit 
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