Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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in die untersten Instanzen. Dies hatte, was die 
Bauern anbelangt, außer der finanziellen auch 
noch die weitere Konsequenz der Vervielfältigung 
der mit ihnen verkehrenden Behörden. Während 
sie sich früher ohne große Kosten an den nahen 
Pfleger wenden und alle vor die weltliche Obrig- 
keit gehörigen Anliegen anbringen konnten, ver- 
ursacht die größere Entfernung der jetzigen Spe- 
zialbehörden, die Kompetenzfrage und der große 
Wechsel des obrigkeitlichen Personals größere 
Umstände. Das Zusammenschrumpfen eigener 
Standesrechte, die Kompliziertheit der stets wach- 
senden und wechselnden Gesetzesvorschriften ver- 
ringerten die Möglichkeit eigenen Zurechtfindens, 
erklärt die Zunahme der schließlich doch auch von 
den materiell produktiven Klassen zu erhaltenden 
außeramtlichen Berufsjuristen, Advokaten, Notare, 
Agenten usw. Die Zahl der zu schlichtenden oder 
zu erledigenden Agenden an sich schon dürfte durch 
die zu weit gehende Spezialisierung erhöht wor- 
den sein. In kleineren Kreisen gelang es der über 
Totalkenntnisse verfügenden und nach allen Seiten 
hin verantwortlichen Behörde, manche Irrungen 
im Keim zu ersticken, wo bei Mißgriffen zuerst 
eingreifender Spezialbehörden leicht größere Ver- 
wicklungen entstehen. Insbesondere ist die Zahl 
der Fälle, wo man anfangs noch nicht weiß, ob 
eine Verwaltungsfrage oder ein Rechtsfall daraus 
entstehen wird, keine kleine. 
Was ferner die Art der Tragung von Landes- 
kalamitäten und Unglücksfällen betrifft, so war 
in der alten Agrarorganisation mancher gesunde 
Gedanke, der bei der Frage nach den damaligen 
Existenzbedingungen des Bauernstands unsere 
Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Bei Unglücksfällen 
war der Grundherr zu Remissionen und bestimm- 
ten Beiträgen verpflichtet. In den meisten Guts- 
herrschaften gab es gewisse Fonds, Natural= und 
Geldvorräte zu leihweiser Aushilfe. Die Unter- 
stützung durch Darlehen im kleinen Kreis und in 
nächster Nähe hatte den Vorteil, daß der nahe 
Gläubiger die schuldnerischen Verhältnisse besser 
überblicken, seine Würdigkeit abschätzen, Rücksicht 
und Strenge richtiger verteilen konnte und bei 
geringen Prozenten weniger riskierte als jetzt das 
entfernte städtische Kapitalinstitut. Die leihende 
Grundherrschaft konnte außerdem bei Mißwirt- 
schaft und Faulheit obrigkeitliche Strenge walten 
lassen, die in diesem Fall mit dem volkswirtschaft- 
lichen Interesse parallel lief. Ebensogut wie Lehen 
konnten die Bauerngüter im Grund genommen 
nur für jene Schulden als Exekutionsobjekt be- 
langt werden, welche zur Meliorierung des Bauern- 
gutes begründet worden waren, oder bei denen 
der Gutsherr eingewilligt hatte. — Brachte der 
Bauer das Gut durch schlechte Wirtschaft her- 
unter, so konnte er entsetzt, abgemeiert, abgestiftet 
werden. Das Inventar war Eigentum des Bauern, 
er konnte es wegnehmen und für das untrennbare 
Allod (allodium cum villa coniunctum) Be- 
zahlung verlangen. 
Bauernstand. 
  
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Neben manchen Härten und einer Bevormun- 
dung, die von der ehemaligen Freiheit und Auto- 
nomie, wie sie sich in den alten Hofrechten 
herausgebildet hatte, traurig absticht, war durch 
die skizzierte Existenz eines eigenen Agrarrechts 
so viel erreicht, daß im großen und ganzen der 
Bauernstand, dieser wichtige ländliche Mittelstand, 
wenigstens erhalten blieh und sich nicht vermin- 
derte. Gerade das ist der schwache Punkt, die 
wunde Stelle der seit der Mobilisierung des 
Grundeigentums eingetretenen Anderung der 
bäuerlichen Zustände. Die auf die Durch- 
führung des Individualismus, des freien Eigen- 
tums gesetzten Hoffnungen haben sich wohl in Be- 
zug auf Produktion und Rentabilität von Land- 
gütern und einzelnen Ackern, nicht aber in Bezug 
auf Befestigung und Vermehrung behäbiger 
Bauernfamilien erfüllt. Ein großer Teil des 
Bauernstands in den östlichen Provinzen Deutsch- 
lands wurde nicht gerettet, seine Höfe wuchsen 
dem Großgrundbesitz zu, und die betreffenden 
Kleinbauern sanken zu Taglöhnern herab. Man 
hoffte, nach Beseitigung der bäuerlichen Lasten, 
nach Beseitigung der Mischung der bäuerlichen 
Anrechte und der unvollkommenen Eigentums- 
rechte werde nichts mehr im Wege stehen der 
Ausbreitung der rationellen Landwirtschaft und 
dem Wohlstand der bäuerlichen Bevölkerung, die 
doch — natürlich unter Voraussetzung entsprechen- 
der Rücksicht auf das Ganze — das Ziel einer 
guten Agrarpolitik bildet. Die Voraussetzungen 
sind in der Hauptsache eingetreten, auch die ratio- 
nelle Landwirtschaft hat zugenommen; allein 
das goldene Zeitalter der landbauenden Bevölke- 
rung ist nicht eingetreten. 
III. Heutige Lage des Bauerustands. In 
den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrh. sind so 
allgemeine und immer wiederkehrende Klagen laut 
geworden, daß schließlich eine förmliche agrarische 
Bewegung entstanden ist. Im Lauf des 19. Jahrh. 
sind wiederholt sog. Agrarkrisen eingetreten: die 
erste in den 1820er Jahren, welche durch vorüber- 
gehend niedrige Getreidepreise herbeigeführt wurde, 
dann diejenige der 1840er Jahre, deren Ursache in 
vorübergehend schlechten Ernten bestand, darauf 
diejenige der 1860er Jahre, von welcher insbeson- 
dere Norddeutschland betroffen wurde und welche 
sich des näheren als Kreditnot charakterisierte, 
endlich die Ende der 1870er Jahre beginnende 
und jetzt noch fortdauernde Krisis. Diese letztere 
hat einen chronischen Charakter angenommen. 
Symptone hierfür sind die Verminderung der 
landwirtschaftlichen Bevölkerung, die fortschreitende 
Verschuldung des Grundbesitzes, die physische und 
hygienische Verelendung des Landvolks, die Ab- 
wanderung vom Lande usw. Wären die Ursachen 
der bäuerlichen Bedrängnis vorübergehende, solche, 
die mit der Natur der Landwirtschaft, ihrem ewigen 
Wechsel schlechter und guter Jahre zusammen- 
hängen, so wären die Klagen bald verstummt. 
Allein es wird immer deutlicher, daß auch dauernde 
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