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Ursachen, in den geänderten Einrichtungen und
Rechtsverhältnissen wurzelnd, im Spiel sind: Ver-
änderungen in den Erbgewohnheiten, unverhält-
nismäßige Zunahme öffentlicher Lasten, Verschul-
dung, Ausbildung der Kreditwirtschaft in zunächst
ungesunden Formen, die Konkurrenz der unter
besonders günstigen Bedingungen erzeugten land-
wirtschaftlichen Produkte, unzureichender Zollschutz,
ausbeuterischer Zwischenhandel, Erhöhung der
Dienstbotenlöhne, wachsender Lebensanspruch usw.
Lange Zeit hatten steigende Produktenpreise und
technische Fortschritte die dem ländlichen Mittel-
stand ungünstigen Resultate der neueren Agrar-
gesetzgebung verschleiert. Die mit dieser verbundene
grundbücherliche Klarstellung der Eigentumerechte,
der Grenzen, der Größe, der Beschaffenheit, des
Werts, der Abgaben, der Pfänder und sonstigen
Verbindlichkeiten ermöglichte und unterstützte
zweckmäßigere Bewirtschaftung und größere Ka-
pitalaufnahme. Über den beobachteten rascheren
Besitzwechsel tröstete man sich damit hinweg, daß
man den freihändlerischen Versicherungen Glauben
schenkte: der freie Bodenverkehr schaffe nur An-
derungen, die mit dem vollswirtschaftlichen Ge-
samtinteresse durchaus im Einklang stünden, die
vom Standpunkt technischer oder Betriebsver-
besserungen gefordert würden, den Boden nur in
intelligentere Hände brächten, u. dgl. m. Allein
die Klagen verstummten nicht, und die Meinung,
daß die bestehenden Kredit= und Erbrechtsverhält-
nisse eine hervorragende Ursache der bäuerlichen
Bedrängnis seien, trat immer bestimmter auf.
Sie erreichte zunächst wenigstens so viel, daß der
Ruf nach Untersuchung der bäuerlichen Zustände
eine stehende Rubrik der publizistischen Bespre-
chungen wurde und die offizielle Statistik nicht
mehr bloß landwirtschaftliche Produktionsverhält-
nisse berücksichtigte, sondern auch an Klarlegung
des Zustands und der Bewegung des Realitäten=
verkehrs, der Hypothekarbelastung, der Subhasta-
tionen usw. arbeitete.
Allerdings ist diese Aufgabe der Erfor-
schung der bäuerlichen Zustände, sei es nun
auf dem Weg der Statistik oder auf dem Weg
der Enqueten, eine schwierigere Aufgabe als eine
Erforschung industrieller oder kommerzieller Zu-
stände. Für die Handels= und Gewerbestatistik
sind die Verhältnisse — abgesehen von der Mög-
lichkeit absichtlicher Verheimlichung — viel durch-
sichtiger. Es liegen da z. B. die Rechnungs-
abschlüsse der Aktiengesellschaften, die genaueren
Buchführungen vor. Das Budget industrieller
Arbeiter trägt ausschließlich geldwirtschaftlichen
Charakter. In der Landwirtschaft dagegen sind
die Folgen einer Krisis erst viel später wahrnehm-
bar, die Verhältnisse verwickelter, das Landleben
hat noch immer zum Teil naturalwirtschaftlichen
Charakter, die Agrarnot wird augenfällig und
statistisch erst bemerkt, wenn ihr durch gesetzliche
Maßnahmen schon nicht mehr recht beizukommen
ist. Die Resultate von Erhebungen und Gut-
Bauernstand.
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achten sind auch deshalb so mannigfaltig, ja schein-
bar oft sich widersprechend, weil die Ungunst der
Zeit nicht überall gleich intensiv empfunden wird,
sie kann zunächst vom guten Boden, vom größeren,
wohlhabenden Hofwirt noch ohne zu großen Scha-
den ertragen werden, insbesondere von jenen
Landwirten, welche ihre Ansprüche noch weniger
gesteigert haben. Aber trotz der Schwierigkeit der
Durchforschung bäuerlicher Zustände gibt es
gewisse Kennzeichen, die auf Zu= oder Abnahme
bäuerlichen Wohlstands allgemeine Schlüsse zu
ziehen gestatten.
Die gegenwärtige Notlage der Landwirtschaft
beschränkt sich nicht mehr auf ein Land. Aus
allen Ländern, und nicht allein aus europäischen,
auch aus Amerika und andern überseeischen Ländern
vernehmen wir Klagen über mangelnde Rentabilität
des Landwirtschaftsbetriebs. Die Ursache dieser
Erscheinung dürfte vorwiegend auf den durch die
internationale Konkurrenz herbeigeführten Preis-
sturz der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, in erster
Linie des Getreides, zurückzuführen sein. Die Ver-
schärfung der Notlage ist aber noch weniger da-
durch eingetreten, daß die Einnahmen der Land-
wirte keine entsprechende Steigerung erfahren, als
dadurch, daß die Ausgaben im Verhältnis zu
den Einnahmen außerordentlich angewachsen sind.
Die Roherträge der Landwirtschaft sind von den
Freiheitskriegen ab stetig, abgesehen von den durch
Witterungsverhältnisse zeitweise herbeigeführten
Schwankungen, gestiegen, nicht aber in gleicher
Weise die Reinerträge, indem das Verhältnis der
letzteren zu den Roherträgen einerseits durch die
Summe der Wirtschaftskosten, anderseits
durch die Preise der Erzeugnisse bestimmt wird.
Auf das Anwachsen der Wirtschaftskosten haben
Einfluß ausgeübt die hohen Arbeitslöhne, sodann
die Ausgaben für die durch die Sozialgesetzgebung
geschaffenen Wohlfahrtseinrichtungen der Alters-
und Invaliditäts-, Unfall= und Krankenversiche-
rung sowie die fortwährend steigenden Ausgaben
für die allgemeinen Wirtschaftsbedürfnisse, indem
jedes Inventarstück bedeutend teurer ist wie früher.
Daß die Lebensansprüche auch der Bauern in
neuerer Zeit gestiegen, ist zuzugeben. Aber dieser
Vorgang gibt keine genügende Erklärung für die
bestehende Notlage ab, indem die Lebensansprüche
der andern Stände viel größere als diejenigen des
Bauern sind. Im allgemeinen ist über den Mangel
an Sparsamkeit und Nüchternheit auf dem Land
noch weniger zu klagen, auch fehlt es dem Bauern
nicht an Fleiß. Ebenso verbreiten sich Betrieb-
samkeit und Intelligenz immer mehr, wenn es
auch nach dieser Seite noch am meisten hapert.
Aber alle die genannten Erscheinungen zusammen
geben keine genügende und vollständige Erklärung
für die bestehende ungünstige Lage ab, in der sich
zahlreiche Landwirte befinden. Die wichtigste Er-
klärung dürfte darin zu finden sein, daß schon
vor dem Eintritt des Sinkens der Reinerträge die
Lage vieler Landwirte eine bedenkliche war infolge