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der hohen hypothekarischen Verschuldung.
Diese wurde vorzugsweise durch Überschätzung des
Bodenwertes bei Erbteilungen oder Kauf und
durch Nichtbeachtung der für die Höhe der zu-
lässigen Belastung maßgebenden Grundsätze ver-
anlaßt. Daß man einen sog. Verkehrswert
und einen sog. Ertragswert der Grundstücke
unterschied, war ein Fehler, der sich bitter rächen
mußte. Mit der hohen Verschuldung Hand in
Hand geht dann der Mangel an Betriebskapital,
der die Durchführung zeitgemäßer Verbesserungen
verhindert.
Die hohe Verschuldung hat sich ausgebildet seit
dem letzten Drittel des 18. Jahrh. in Verbindung
mit der auf Grundlage der individualistischen
Theorie sich entwickelnden verkehrswirtschaftlichen
Gestaltung der Volkswirtschaft, welche das Grund-
eigentum frei veräußerlich und frei verschuldbar
machte und dem gemeinen Erbrecht unterwarf.
Man vergaß die soziale Bedeutung des Grund-
besitzes für die Gesellschaft und ließ außer acht,
daß für das Grundeigentum eine Rechtsordnung
zu schaffen sei, welche sich der Eigenart des Bodens,
seiner Unbeweglichkeit und Unvermehrbarkeit, seiner
begrenzten Teilbarkeit und Ertragsfähigkeit ebenso
anpaßt wie das Handelsrecht den Bedürfnissen
und Gewohnheiten der Kaufleute. Man hatte,
mit andern Worten, die germanische Rechtsauf-
fassung des Grundbesitzes aus den Augen ver-
loren. „Unser bisheriges Recht behandelt zweifel-
los den Grundbesitz nach Möglichkeit der beweg-
lichen Sache gleich“, sagt Professor Gierke, „stellt
ihn hinein in den Strom der freien Konkurrenz
wie ein bewegliches Gut. Deshalb hat dieses Recht
seine soziale Aufgabe nicht erfüllt, indem es dazu
drängte, den mittleren Besitz zu zerstören und den
Besitz hineinzudrängen in die Form des Latifun-
diums oder der Zwergwirtschaft, indem es zu
einem häufigen Besitzwechsel führte und dem
Grundbesitz die Bedeutung nahm, Heimat und
dauernde Berufsstätte einer ländlichen Familie zu
sein, die von Geschlecht zu Geschlecht der Nation
neue Kräfte liefert. Auch seine nationale Aufgabe
hat dieses Recht nicht erfüllt, nämlich nicht bloß
den Grundbesitz, sondern auch die grundbesitzende
Bevölkerung, unsern Grundbesitzer= und Bauern-
stand, zu erhalten...Wie die Arbeit und das
bewegliche Kapital, so ist auch der Grundbesitz
etwas Eigenartiges. Als nicht vermehrbarer Be-
standteil des vaterländischen Bodens kann er nie-
mals in demselben Sinn einem einzelnen gehören
wie eine bewegliche Sache, ist aber gleichwohl dazu
bestimmt, dem einzelnen Individuum eine Stätte
zu schaffen der Berufserfüllung, der Arbeit für sich
und seine Familie und zugleich für das ganze, eine
Stätte, auf der womöglich seine Kinder und Kin-
deskinder den gleichen Beruf mit Freudigkeit er-
füllen sollen. So brauchen wir also ein Recht,
das dem Grundbesitz die Natur einer Heimstätte
wiedergibt. Demnach soll das künftige Recht ihn
als Rentenfonds behandeln, während das bis-
Bauernstand.
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herige ihn als Kapital auffaßte, und wenn das
bisherige Recht der Auslieferung des Grundbesitzes
an das Kapital keine Grenze setzte, so soll das
zukünftige Recht diese Grenze ziehen.“
IV. Mittel zur Erhaklkung des Bauern---
llands. Unter dem Eindruck der geschilderten
Notlage ist der Zusammenschluß der Landwirte
zur einheitlichen Verfolgung gemeinsamer Ziele
mächtig gefördert worden, und zwar nach ver-
schiedenen Richtungen hin, einmal durch Aus-
gestaltung des landwirtschaftlichen Vereinswesens,
dann durch Gründung von ländlichen Genossen-
schaften und endlich durch zusammenfassende Be-
strebungen zum Zweck der politischen Agitation.
In Deutschland fällt die Gründung der ersten
landwirtschaftlichen Vereine mit den in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrh. auftauchenden Bestrebungen
zur Förderung der landwirtschaftlichen Produktion
zusammen. Zu den ältesten derartigen Vereini-
gungen in Deutschland gehören die Thüringische
Landwirtschaftsgesellschaft zu Weißensee und die
Königl. Landwirtschaftsgesellschaft in Celle (Han-
nover). Diese landwirtschaftlichen Vereine haben,
wie auch die am 11. Dez. 1885 gegründete
„Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft“ die
Förderungderlandwirtschaftlichen Technikim Auge.
Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen ent-
wickelte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrh.,
hat bereits jetzt eine große Bedeutung erlangt
und verspricht eine ungeahnte Rolle, für den
bäuerlichen Betrieb insbesondere, in der Zu-
kunft zu spielen. Man kann drei Gruppen der
landwirtschaftlichen Genossenschaften bezüglich des
Gegenstandes des Unternehmens unterscheiden:
olche zur Beschaffung der landwirtschaftlichen
Betriebsmittel, Bezugs-, solche zum Absatz fertiger
Rohstoffe, Absatz-, und solche zur Bearbeitung und
zum gleichzeitigen Absatz landwirtschaftlicher Er-
zeugnisse, Betriebsgenossenschaften. Die örtlichen
Genossenschaften haben sich wieder in größere pro-
vinzielle und einzelstaatliche Verbände zusammen-
geschlossen, die ihrerseits — einige wenige aus-
genommen — den Reichsverband der deutschen
landwirtschaftlichen Genossenschaften (in Darm-
stadt) bilden. Ein gemeinsames Vorgehen aller
landwirtschaftlichen Organisationen ist für den
Thomasmehlbezug durch die „Bezugsvereinigung
deutscher Landwirte“ angebahnt, welche sich im
Febr. 1900 zu einer Gesellschaft mit beschränkter
Hastung konstituierte. Die Umgestaltung der Ge-
setzgebung erstrebt, über die von den Bauern-
vereinen (s. d. Art.) verfolgten Ziele hinaus-
gehend, der am 18. Febr. 1893 gegründete
„Bund der Landwirte“. Zugleich Förde-
rung der Technik und Anbahnung gesetzgeberischer
Maßnahmen im Interesse der Förderung der Land-
wirtschaft haben zur Aufgabe die Landwirt-
schaftskammern (s. d. Art.).
Neben der Selbsthilfe stand unter den Vor-
schlägen zur Abhilfe der Not der ländlichen Be-
völkerung lange Zeit im Vordergrund des Inter-
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