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esses besonders in den dem Bund der Landwirte
verwandten Kreisen der sog. Antrag Kanitz au
Monopolisierung der Getreideeinfuhr und Fest-
setzung von Mindestpreisen. Die von dem Rhei-
nischen Bauernverein vertretenen sog. Neußer Be-
schlüsse stellen nur eine Modifikation des Antrags
Kanitz dar. Wesentlich ist beiden Vorschlägen die
Verstaatlichung des gesamten Getreidehandels.
Ferner wird eine Erhöhung der Zölle für land-
wirtschaftliche Produkte, insbesondere Getreide
(s. d. Art. Getreidezölle), erstrebt. Ohne Zweifel
ist zur Zeit ein Zollschutz notwendig, und zwar
ein hoher; aber die wichtigsten Punkte der Agrar-
frage werden auf dem Weg dieser Bestrebungen
keine Besserung erfahren, nämlich die Neureglung
des Verhältnisses von Kapital und Grundbesitz
einerseits und die Reglung des Verhältnisses der
Besitzenden zu den Besitzlosen auf dem Land. Die
erstgenannte Frage umfaßt die beiden Probleme
der Erbfrage und der Verschuldung. Schon im
Begriff Bauerngut liegt das Erfordernis einer
gewissen Größe. Diese Größe kann nach zwei
Seiten hin Schmälerung und Einbuße erleiden,
und beide Möglichkeiten müssen der Reihe nach
ins Auge gefaßt werden. Es kann a) durch Real-
teilung das Bauerngut zerstört werden, es kann
aber auch b) ohne Realteilung durch Teilung des
Erträgnisses infolge Überlastung mit Verpflich-
tungen an Dritte die Unzulänglichkeit des Bauern-
guts für den Landmann eintreten.
Was die Realteilung anbelangt, so wird
jetzt ziemlich allgemein anerkannt, daß weit ge-
triebene Parzellierung des Grundbesitzes not-
wendig gewisse wirtschaftliche Nachteile mit
sich führe. Ein Grundstück, welches eine Familie
noch zu erhalten vermag, kann gleichwohl schon
zu klein sein, um ihre Arbeitskraft genügend zu
beschäftigen. Diese überschießende Kraft geht dann
verloren, wenn nicht eine Nebenbeschäftigung da
ist, deren Ausübung sich ohne gegenseitige Störung
mit dem Ackerbau verknüpfen läßt. Ist das Grund-
stück auch zum Unterhalt der Familie zu klein,
so wird das Aussuchen von Nebenbeschäftigung
zur Notwendigkeit, und der Anbau wird in den
meisten Fällen den Anforderungen derselben nach-
gesetzt werden müssen und mehr oder weniger leiden.
Es kann auch die Gebundenheit an die an sich un-
genügende Ackerparzelle zu unverhältnismäßiger
Herabdrückung des Lohnes der Nebenbeschäftigung
führen. Spinner, Weber, Schmiede, Stricker in
abgelegenen Gegenden auf Zwergwirtschaften
suchen den durch Maschinen= und sonstige Konkur-
renz sinkenden Preisen ihrer Nebenprodukte, ehe
sie ihre gewohnte Beschäftigung aufgeben, durch
übermäßige Anstrengung ihrer selbst und ihrer
Familienmitglieder bis zu gesundheitzerstörender
Erschöpfung zu begegnen. — Auf einem kleinen
Grundstück steht die im Lauf des Tages unmittel-
bar zu verrichtende Arbeit im Mißverhältnis zu
dem für Vorbereitung, Hin= und Weggehen,
Wechsel der Werkzeuge, Verkauf des Produktes er-
Bauernstand.
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forderlichen Zeitaufwand; die Viehhaltung wird
fertraglos; an Wegeland, Gräben, Überwerfen
von Saat, Vergütung von Beschädigung der
Nachbarn entstehen gegenüber größeren Grund-
stücken unverhältnismäßige Verluste. Der für den
Boden geeignete Fruchtwechsel kann nicht durch-
geführt werden, weil der Besitzer auf den Natural-
ertrag bestimmter Bodenfrüchte rechnen muß. Jede
Mißernte wird dem Besitzer verhängnisvoll. Man
kann sagen: ein Bauerngut, welches für den je-
weilig passenden Intensitätsgrad eben groß genug
ist, würde durch Zerstücklung ebenso gewiß an
Gesamtwert verlieren, wie Edelsteine, Schiffe,
Gemälde, Pferde, die man zerteilt. — Die Tei-
lung eines Wirtschaftsganzen bringt an sich schon
Störung in der Gesamteinrichtung hervor. Woh-
nung, Hausrat, Gutsinventar lassen sich ohne
Neuanschaffung und Umgestaltung nicht so teilen,
daß sie, wie bisher fürs Ganze, so jetzt für zwei
Wirtschaften passen. Viele Gegenstände müssen
doppelt beschafft werden, manche sind für den
Teil nicht mehr voll nutzbar, der Gesamtbetrieb
muß geändert werden und erfordert neue Erfah-
rungen. Die Erträge sind nicht mehr in der alten
Weise verwertbar, die bürgerliche Stellung, welche
das ungeteilte Gut dem Besitzer gab, kann denen,
die nur Teile besitzen, nicht erhalten bleiben. Bei
ungeteilter übernahme würde, wie die Verhält-
nisse der ländlichen Gesellschaft gestaltet sind,
wenigstens ein Familienglied in der Lage sein,
die Vorteile dieser Stellung für sich und damit
auch für seine Angehörigen, seine Geschwister und
Verwandten, geltend und nutzbar zu machen. —
Anderseits ist es richtig, daß das Bestehen recht-
licher oder tatsächlicher Geschlossenheit des bäuer-
lichen Besitzes für sich allein nicht immer vor Ver-
schuldung oder Verarmung schützt. Der Zustand
der unumschränkten Freiteilbarkeit hat keineswegs
überall die Auflösung der bäuerlichen Anwesen im
Gefolge. Die mit der fortgesetzten Aufteilung
der Bauerngüter in immer kleinere Anwesen ver-
bundene Gefahr ist da geringer, wo eine sehr in-
tensive Bodenbestellung möglich ist, oder wo das
fehlende Bodenareal seine wirtschaftliche Ergänzung
in industriellem Nebenverdienst findet. Freiteil-
barkeit hat also in der Nähe größerer Städte, in
industriereichen Gegenden nichts durchweg Be-
denkliches und absolut Verwerfliches. Wo Haus-
industrie, Bergwerk oder andere lohnende Neben-
beschäftigung auf dem Land vorhanden ist und
rationeller Garten= oder Handelsgewächsbau be-
steht, ist das Verschwinden großer Bauerngüter
weniger schädlich. In der Tat liegt in Gegenden
des frei beweglichen Besitzes ein Segen und ein
Sporn zu Fleiß und Sparsamkeit in der Mög-
lichkeit, sich vom Taglöhner, der sich ein Stückchen
Garten gekauft hat, bis zum wohlhabenden
Bauern hinaufzuarbeiten. Insbesondere wird der
Taglöhner oder Fabrikarbeiter, der auch nur
einen Morgen Landes mit einigen Obstbäumen
und ein eigenes Häuschen sein nennt, den ver-