Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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so weit beschränken, als die einzelnen auf dieselbe 
bei Eingehung des Vertrags verzichten wollten; 
unter diesem Gesichtspunkt allein kann die Strafe 
verhängt werden, da das Strafgesetz — wie alle 
Gesetze — nur auf der freien Willensüberein- 
stimmung der Bürger beruhen kann. Dafür aber, 
daß die einzelnen sich ihrer Freiheit entäußert 
haben, muß die Gemeinschaft sie schützen, muß den 
einzelnen abschrecken, die Freiheit jedes andern zu 
beeinträchtigen, und kann dies nur dadurch er- 
reichen, daß sie den verbrecherischen Trieben noch 
stärkere Beweggründe entgegenstellt, die Aussicht 
auf die angedrohte Strafe. Beccaria stellt also 
lange vor Feuerbach die psychologische Zwangs- 
theorie, wenigstens im Keime, auf. Das Maximum 
der Strafe ist aber für ihn erreicht, wenn das an- 
gedrohte Übel den Genuß, welchen der Erfolg des 
Verbrechens verheißt, überwiegt, während Feuer- 
bach die Strafe so bemessen will, daß das an- 
gedrohte Übel bei Unterlassung des Verbrechens 
erwachsende Unlust zu überwinden vermöge. Feuer- 
bach will den verbrecherischen Willen im Keime 
ersticken, Beccaria nur von dem letzten, vollenden- 
den Schritt abhalten; Feuerbach kam zu einem 
harten Strafsystem, Beccaria spricht sich stark 
gegen harte Strafen aus. Die Todesstrafe findet 
Beccaria deshalb ungerechtfertigt, weil die ein- 
zelnen bei Eingehung des Sicherheitsvertrags der 
Gesamtheit das Recht auf ihr Leben weder hingeben 
konnten noch wollten, eine Anschauung, die von 
seiner irrigen Vertragstheorie ausgeht. Ubrigens 
widerspricht sich Beccaria selbst in offensichtlichster 
Weise. Während er seiner Theorie nach die Todes- 
strafe verwerfen muß und sie auch anfänglich ver- 
wirft, gesteht er gleichwohl ihre Berechtigung für 
die zwei Fälle zu, daß das längere Leben eines 
Verbrechers die Staatsexistenz bedroht, und daß 
dessen Tod das wirksamste Mittel ist, andere von 
Verbrechen abzuhalten — Zugeständnisse, welche 
die Theorie über den Haufen werfen bzw. auf das 
Niveau des Nützlichkeitsstandpunkts erniedrigen 
(Bergk I, 8 16, S. 172). 
Ist die Theorie vom Staatsvertrag unhaltbar, 
so ist es auch die darauf gestützte Strafrechtstheorie. 
Mit der Aufklärungsphilosophie teilt Beccaria die 
Verachtung alles Überlieferten, die blinde Humani- 
tätsschwärmerei, den Aberglauben an die alleinige 
Macht der Bildung. Als Anhänger der Theorie 
des Contrat social weist er jeden Einfluß der 
Offenbarung und des Naturrechts auf die Gesetz- 
gebung zurück. Er erklärt es für höchst wichtig, 
hier eine genaue Sonderung vorzunehmen, um 
über Fragen des öffentlichen Rechts richtig urteilen 
zu können. Dabei gibt er dem göttlichen und 
dem natürlichen Recht eine sehr erhabene, aber 
möglichst der sozialen Wirklichkeit und Notwendig- 
keit entrückte Stellung. Danach bestimmt sich 
Beccarias Meinung von den Verbrechen gegen 
Religion und Sittlichkeit, soweit die dunklen 
Wendungen, in welche seine Furchtsamkeit sich 
hüllt, jene erkennen lassen. Offenbar will er erstere 
Beccaria. 
  
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überhaupt nicht und letztere nur dann bestraft 
wissen, wenn sie durch den Gebrauch von Gewalt 
bedingt sind. Jedoch ist diese Anschauung bei 
ihm nur durch strenge Schlußfolgerung aus seiner 
Theorie, nicht durch frivole Denkart hervor- 
gerufen. Wenigstens preist er die erhabene soziale 
Bedeutung der Ehe in seinen nationalökono- 
mischen Vorlesungen (I, § 39) mit Worten wärm- 
ster Begeisterung. « 
Beccarias Anschauungen wirkten immerhin ver- 
dienstlich nach einer andern Seite. Mit wuch- 
tiger Beredsamkeit brandmarkte er die Anwendung 
der Folter, welche Schuld oder Unschuld des An- 
geklagten, wie er mit bitterer Satire sich äußert, 
von der Empfindlichkeit der Fibern und Stärke 
der Muskeln abhängig erscheinen läßt. Er wies 
auf die grausame Torheit hin, den Angeklagten 
beeidigt zu vernehmen, wodurch dieser leicht zum 
Meineid oder zur Selbstschädigung gebracht wer- 
den könne. Er erörterte, wie weniger die absolute 
Härte des Strassystems als die relative Schwere 
der Strafen der einzelnen Verbrechen ihre Wirk- 
samkeit übe. Ferner erhob er lebhaften Einspruch 
gegen die eingerissene Willkür der Richter, welche 
gegenüber den veralteten Strafbestimmungen der 
Carolina ganz nach freiem Ermessen mildere 
Strafen verhängten. Beccaria verlangte dagegen, 
daß das Strafgesetz so bestimmt sei, daß der Richter 
nur die einzelne Handlung durch einen einfachen 
logischen Schluß darunter zu subsumieren habe. 
Endlich forderte Beccaria zuerst freie Beweiswür- 
digung des Richters, welcher nach der moralischen 
Gewißheit, nicht nach den Regeln eines starren 
Beweissystems urteilen solle, und Offentlichkeit 
des Verfahrens. — Erwägt man die Mißbräuche 
des damaligen Strafverfahrens, den zwischen einer 
von niemand mehr ernstlich aufrecht erhaltenen 
Gesetzgebung und der Schen vor jeder ernstlichen 
Neuerung schwankenden Rechtszustand, dann ist 
die Wirkung der Worte Beccarias leicht zu ver- 
stehen. Wie weit Beccarias Stimme drang und 
wie lange sie nachklang, beweist, daß die von 
Katharina II. verfaßte „Instruktion für die zur 
Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Ge- 
setzbuch verordnete Kommission“ (1768) neben 
Montesquien vorzüglich auf Beccaria beruhte, 
und daß die Kriminalgesetzgebung Leopolds I. 
von Toskana (1786) nicht nur in den leitenden 
Grundsätzen, sondern selbst in der Fassung den 
Einfluß der Schrift Beccarias verriet (v. Reumont, 
Geschichte Toskanas II 105). ·- 
Beccarias Verdienst besteht in dem Versuch, eine 
menschlichere und zugleich gerechtere und wirk- 
samere Bekämpfung des Verbrechens herbeizu- 
führen. Sein Hauptirrtum beruht in der Fiktion, 
Strafe und Strafgewalt in der Trennung von der 
sozialen Ordnung und jenen naturgemäßen Be- 
dingungen begründen bzw. neu gestalten zu wollen, 
auf denen ihre Erhaltung, Ausbreitung und Ver- 
vollkommnung beruht. Die endlosen Versuche des 
humanitären Liberalismus, außerhalb der For-
	        
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