Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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nur die eingeleiteten Prozesse aufgehoben, so daß 
wegen desselben Verbrechens eine neue Anklage 
erhoben werden konnte. Wurde keine neue An- 
klage erhoben, so war ihre Wirkung allerdings 
einer Aufhebung des Verbrechens gleich. 
Im germanischen Recht konnte die Idee 
der Begnadigung nicht sofort in ihrer Reinheit 
hervortreten, weil das Strafrecht einen vorherr- 
schend privatrechtlichen Charakter an sich trug. 
Die Strafe wurde als eine dem Verletzten schul- 
dige Genugtuung aufgefaßt, und es wurde des- 
halb nicht bloß bei der Verübung des Verbrechens, 
sondern ebenso bei dessen Bestrafung nur der ver- 
letzte Einzelne, nicht aber der Träger der staat- 
lichen Souveränität als beteiligt erachtet. Karl 
d. Gr. und seine unmittelbaren Nachfolger haben 
von dem Recht der Begnadigung ziemlich häufig 
Gebrauch gemacht, jedoch immer nur dann, wenn 
sie selbst als Verletzte und Richter erschienen 
(Einhardi Annales a. 801, 1 189; a. 820, 
1 208). Infolge des Vorherrschens der Geld- 
bußen als Strafart (Kompositionensystem) wurde 
neben dem Kaiser auch dem Gericht das Recht 
zur Gnade beigelegt; doch konnte der Richter die 
Begnadigung nur mit Einwilligung des Klägers 
verfügen, und diese Einwilligung wurde auch noch 
für nötig erachtet, als die Strafe einen öffentlich- 
rechtlichen Charakter angenommen hatte. Als ein 
Gnadenakt ist auch die seit dem Untergang der 
Volksrechte anerkannte Befugnis des Richters an- 
zusehen, auf Antrag des Angeklagten und mit 
Zustimmung des Anklägers bei gewissen Ver- 
brechen die öffentliche Strafe in eine dem Ver- 
letzten zu entrichtende Buße und eine dem Richter 
zu gebende Wette umzuwandeln oder statt der im 
Gesetz ausgesprochenen Strafe eine andere, mil- 
dere zu verhängen, z. B. statt Verbannung Wall- 
fahrten an heilige Orte. — Mit dem Eindringen 
der fremden Rechte in Deutschland, insbesondere 
des römischen Rechts, mit der Umbildung des 
Gerichtswesens und der Ausbildung der Terri- 
torialgerichte wurde das Begnadigungsrecht immer 
deutlicher als ein Recht des Landesherrn erkannt. 
Das Erfordernis der Einwilligung des Klägers 
trat mehr in den Hintergrund, das Abkaufen der 
öffentlichen Strafe durch Geld wurde verboten, 
die Verwandlung und Milderung der peinlichen 
Strafen den Gerichten in weitem Umfang ge- 
stattet; daneben übten der Kaiser und die Landes- 
herren gegenüber deren Entscheidungen das Be- 
gnadigungsrecht aus. Zu Anfang des 16. Jahrh. 
wurde bereits in einzelnen Ländern die ausschließ- 
liche Befugnis des Landesherrn zur Begnadigung 
festgesetzt (Lueder, Das Souveränitätsrecht der 
Begnadigung (1860)]; Hälschner, System des 
preußischen Strafrechts 1 542 ff). Durch die 
Anerkennung des Begnadigungsrechts als eines 
Hoheitsrechts des Kaisers und des Landesfürsten 
erhielt die Begnadigung eine ungleich höhere Be- 
deutung und zugleich einen fortwährend größeren 
Umfang und praktischen Einfluß. Die Landes- 
Begnadigung. 
  
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fürsten übten das Recht der Begnadigung wie die 
römischen Imperatoren, sie machten auch von der 
Abolition Gebrauch. 
In der Theorie bestand über den Begriff 
und den Umfang des Begnadigungsrechts bis 
zu Clarus (gest. 1575) keine sichere Auffassung. 
Clarus erklärte die Begnadigung für ein von 
Rechts wegen dem Prinzeps allein zustehendes 
Recht, welches dem Herkommen gemäß auch von 
andern Gerichtsherren geübt werde und die vor- 
herige Zustimmung des Verletzten voraussetze. 
Eine höhere Auffassung läßt die bambergische 
Halsgerichtsordnung von 1507 erkennen. Seit 
dem 17. Jahrh. wurde das Recht der Begnadi- 
gung zu den landesherrlichen Regalien gerechnet, 
und es wurde im 18. Jahrh. sogar noch mehrfach 
als Einnahmequelle ausgeübt. Aus dem Gesichts- 
punkt des Regals entwickelte Carpzov (gest. 1666) 
die Lehre vom Begnadigungsrecht, welches er aus- 
schließlich dem Kaiser und den Landesherren zu- 
spricht. Die nicht mit Landeshoheit versehenen 
Gerichtsherren sollen nur ein Recht haben, aus 
Gnade eine Strafmilderung, jedoch ohne Ver- 
wandlung der Strafart in eine andere, eintreten 
zu lassen. Den Fürsten sind alle Arten der Be- 
gnadigung freigegeben, jedoch soll dieselbe hinsicht- 
lich gewisser schwerer Verbrechen, insbesondere der 
delicta iuris divini (Tötung, Ehebruch, Sodo- 
mie, Blasphemie, Idololatrie usw.), ausgeschlossen 
sein. Diese Doktrin erlangte zufolge der Autori- 
tät Carpzovs fast unbestrittene Anerkennung. 
Gegen dieselbe erhoben sich um die Wende des 
18. Jahrh. einzelne Philosophen, insbesondere 
Kant, welcher die Zulässigkeit jeglichen Begnadi- 
gungsrechts bestreitet. Kant bezeichnet in den 
„Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ 
(1797) das Begnadigungsrecht als das schlüpf- 
rigste aller Rechte des Souveräns; nur bei einer 
Läsion, die ihm selber widerfährt (crimen laesae 
maiestatis), soll er davon Gebrauch machen 
können, aber auch da nur, wenn durch Ungestraft- 
heit dem Volk selbst in Ansehung seiner Sicher- 
heit Gefahr erwachsen könne; in allen andern 
Fällen soll die Begnadigung ein Unrecht gegen 
die Untertanen und das Gemeinwesen sein. In 
diesen Ausführungen ist der Begriff der Strafe 
verkannt. Anderseits verkennt de Candolle den 
Charakter des Begnadigungsrechts als eines Ho- 
heitsrechts des Regenten, wenn er in seiner 
Dissertation sur le droit de gräce (1829) 
die Aufstellung eines tribunal de gräce verlangt, 
um durch dieses Gnade erteilen zu lassen. Auf 
einer irrigen Ansicht über den Charakter der Be- 
gnadigung beruht auch die bedingte Gegnerschaft 
Benthams in seinen Traités de législation 
civile et pénale II (1820) 190 192: Si les 
lois sont trop dures, le pouvoir de faire 
gräces est un correctif nécessaire; mais ce 
correctif est encore un mal. Faites de bonnes 
lois, et ne créez pas une baguette magique, 
qdui ait la puissance de les annuler. Si la
	        
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