Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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peine est nécessaire, on ne doit pas la 
remettre; si elle n’est pas néecessaire, on no 
doit pas la prononcer. Der von den Philo- 
sophen gegen die Zulässigkeit der Begnadigung 
geltend gemachte Eingriff in die Rechte des Ver- 
letzten bildet keinen genügenden Grund gegen deren 
Statthaftigkeit, weil es sich nicht um Privatrechte, 
sondern um öffentliche Rechte handelt, „weil über 
sein Leib und Leben niemand uneingeschränktes 
Eigentum und Herrschaft besitzt“ (Codex Bavari- 
cus II 17511 11, § 3). rrig ist die Bezeich- 
nung des Begnadigungsrechts als lex specialis. 
Irrig ist auch die Auffassung, daß das Begna- 
digungsrecht des Regenten eine Unterart des dem- 
selben zustehenden Privilegien= und Dispensa- 
tionsrechts sei (Marezoll, Das gemeine deutsche 
Kriminalrecht LI1841, 11856)), da es sich bei 
dessen Ausübung nicht um die Aufhebung eines 
Strafgesetzes, sondern nur um die Aufhebung der 
Folgen einer einzelnen Tat durch einen Regie- 
rungsakt des Staatsoberhaupts handelt. Von 
dem Rechtsmittel der Berufung unterscheidet sich 
die Begnadigung dadurch, daß sie eine individuelle 
Ausnahme von der Anwendung des Strafgesetzes 
ist, während die Berufung an den höheren Richter 
die richtigere Anwendung des Strafgesetzes gewähr- 
leistet. Wenn früher infolge der Vorschrift, daß 
die richterlichen Urteile vom Landesherrn zu be- 
stätigen seien, die Begnadigung als das richter- 
liche Urteil letzter Instanz erscheinen konnte, so ist 
durch die neueren Verfassungsgesetze der richtige 
Standpunkt hergestellt. Die nach dem Vorgang 
anderer Staaten in dem deutschen Strafgesetzbuch 
gewährte Möglichkeit einer vorläufigen Entlassung 
der Strafgefangenen mit der Wirkung, daß, wenn 
während des Restes der Strafzeit ein Widerruf 
der Entlassung nicht erfolgt ist, die Strafe mit Ab- 
lauf der Strafzeit als verbüßt erachtet wird, sowie 
der bedingte Strafaufschub sind keine Arten der 
Begnadigung, weil sie keinen Erlaß der Strafe 
enthalten; sie sind mit dem System der Freiheits= 
strafen zusammenhängende, der Landesjustizver- 
waltung zustehende Akte der Strafvollstreckung. 
Der innere Grund der Begnadigung ist einer- 
seits der Konflikt zwischen den nur die Durch- 
schnittsverhältnisse berücksichtigenden Bestimmun= 
gen des Strafgesetzes und den Forderungen der 
Gerechtigkeit im Einzelfall, anderseits der die 
Anerkennung richterlicher Irrtümer und deren 
Heilung in einem neuen Strafverfahren ausschlie- 
ßende formale Grundsatz der Rechtskraft gericht- 
licher Entscheidungen. Im Strafrecht, dessen 
gerechte Anwendung nicht allein die genaueste 
Kenntnis des Tatbestandes nach der Tat- und 
Willensseite, sondern auch solche Richter voraus- 
setzt, welche die Strafe im Geist des Gesetzes 
abzuwägen verstehen, wird es auch bei der besten 
Gesetzgebung immer Fälle geben, in welchen ein 
außerordentliches Zusammentreffen von Umstän- 
den bewirkt, daß die nach dem Gesetz erkannten, 
durch dieses im voraus bestimmten Strafen außer 
Begnadigung. 
  
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Verhältnis mit der Verschuldung stehen. In die- 
sen Einzelfällen ist es die Aufgabe des Begnadi- 
gungsrechts, die zu Unangemessenheiten führende 
Anwendung des Strafgesetzes von einem nicht 
bloß rein juristischen, sondern allgemein sittlichen 
Standpunkt aus zu verhindern. Dessen Grundlage 
ist somit die Gerechtigkeit, welche eine Ausgleichung 
des formellen Gesetzes mit dem materiellen Recht 
wegen Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung oder 
wegen Mangelhaftigkeit des richterlichen Aus- 
spruchs erheischt. Unbegründet ist deshalb die An- 
sicht von Geib (Lehrb. des deutschen Strafrechts 1I. 
157), daß die Begnadigung nur zur Verbesserung 
der (unvermeidlichen) Fehler der Strafgesetze und 
nicht auch schon dann erteilt werden dürfe, wenn 
es sich um Verbesserungen der Fehler der Straf- 
rechtspflege handelt. Durch Rechtsmittel nicht zu 
heilende Irrtümer der Rechtsprechung müßten dann 
ungeheilt bleiben. Sodann kann auch der höhere 
Staatszweck selbst einem rechtlich wie sittlich 
Schuldigen gegenüber die Unterlassung der An- 
wendung des Strafgesetzes rechtfertigen, wenn 
durch dessen Anwendung das Ganze mitleiden 
würde; denn die Gesetze werden gegeben, damit 
sie nützen, nicht damit sie schaden. Endlich ist 
wie für das Privatleben, so auch für das Staats- 
leben unter Umständen das Vergeben und Ver- 
gessen richtiger und vorteilhafter als die ausnahms- 
lose Durchführung abstrakter Grundsätze. Die 
Gründe für die Zulässigkeit der Begnadigung sind 
deshalb den Ideen der Gerechtigkeit, der Politik 
und der Güte zu entnehmen. 
Die Gnadengewalt ist somit ein von dem 
Staatsoberhaupt als dem Inhaber der Justiz- 
gewalt zum Zweck des Rechts, der Gerechtigkeit 
und des Staatswohls zu handhabendes Korrektiv 
aller Strafgesetze. Subjekt des Begnadigungs- 
rechts ist das Staatsoberhaupt, in Monarchien 
der Monarch, und zwar in konstitutionellen Mon- 
archien der Monarch allein mit Ausschluß der 
Landtage, in Republiken das Organ der Staats- 
verwaltung. Der höchst persönliche Charakter des 
Begnadigungsrechts verbietet dessen Ubertragung 
auf andere Organe der Staatsverwaltung sowie 
die Aufstellung materieller Voraussetzungen für 
dessen Ausübung durch den Regenten. Materielle 
Bedingungen lassen sich überdies schon um des- 
willen nicht fixieren, weil es unmöglich ist, die 
Kombination aller tatsächlichen Fälle vorauszu- 
sehen. Im allgemeinen läßt sich nur sagen, daß die 
Begnadigung ein subsidiäres Hilfsmittel zur Be- 
seitigung vorhandener Unvollkommenheiten bleiben 
muß. Sie kann bei allen strafbaren Handlungen 
ohne Ausnahme eintreten. Ihre Erteilung aus 
lediglich in der Person des Regenten liegenden 
Gründen, wie Regierungsantritt, Vermählung, 
Geburt eines Thronerben, erscheint der modernen 
Theorie ungerechtfertigt, weil diese Ereignisse mit 
der Strafe in keinerlei Zusammenhang stehen. 
Die Begnadigung kann an sich jederzeit ein- 
treten.
	        
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