Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Gegenstand der Begnadigung können sämt- 
liche Folgen des Verbrechens sein mit Ausnahme 
der vermögensrechtlichen. Die Begnadigung ist 
weder auf einen Teil der Folgen noch durch den 
Willen des Begnadigten beschränkt, sie kann viel- 
mehr die Folgen vollständig aufheben und die 
Ausführung der von ihr als gerecht erkannten 
Milderung der Strafe unbedingt verlangen. Der 
Begnadigte kann die Begnadigung nicht aus- 
schlagen, er muß sich selbst die Abolition gefallen 
lassen, wo sie zulässig, weil auch diese im öffent- 
lichen Interesse erteilt wird. Nach dem Begriff 
der Gnade kann die Begnadigung nur zur Milde- 
rung, nicht zur Schärfung der erkannten Strafe 
führen, sie kann diese ganz oder teilweise erlassen 
oder in eine andere, im Strafgesetz anerkannte und 
von diesem für milder erklärte Strafart umwan- 
deln. Die Befugnis zur Strafumwandlung hat 
Mohl (Staatsrecht, Völkerrecht und Politik II 
660) dem Regenten abgesprochen, weil der Ver- 
urteilte zwar nicht verlangen könne, daß die 
Staatsgewalt handle, wo und wie sie es nicht für 
recht erachtet, wohl aber fordern könne, daß kein 
anderes Ubel ihm zugefügt werde, als das Gesetz 
überhaupt bei der fraglichen Übertretung für 
passend erachtet hat. Hier ist der öffentlich-recht- 
liche Charakter der Begnadigung verkannt. In 
England kann die Begnadigung bei bestimmten 
Verbrechen die Wirkungen des bürgerlichen Todes 
nicht aufheben. 
Die Wirkung der Begnadigung wird durch 
die regelmäßig schriftliche Begnadigungsverfügung 
bestimmt; ist deren Inhalt zweifelhaft, so ist die- 
selbe genau und so vorteilhaft wie möglich für den 
Begnadigten auszulegen. Die Wirkung der Be- 
gnadigung erstreckt sich bezüglich erkannter Strafen 
auf alle Länder und alle Regierungsnachfolger; 
bezüglich noch nicht erkannter Strafen nur auf das 
Gebiet desjenigen Staates, von dessen Regenten 
sie erteilt ist. Ist dieser Staat der einzige zur 
Strafverfolgung berechtigte, so wirkt die Abolition 
absolut. Dasselbe gilt, wenn beim Vorhandensein 
mehrerer berechtigten Staaten diese sämtlich die 
Abolition erteilen, weil dadurch jede Möglichkeit 
strafrechtlicher Verfolgung ausgeschlossen ist. Der 
von nur einem der berechtigten Staaten gewährten 
Abolition ist außerhalb des Gebietes desselben 
eine rechtliche Wirkung nicht beizumessen. Dies 
gilt selbst für den Fall der nach eröffneter Unter- 
suchung erteilten Abolition. Steht eine Straf- 
sache, zu deren Verfolgung an sich nur ein Staat 
berufen ist, mit einer zweiten, in einem andern 
Staat zu verfolgenden Strafsache im Zusammen- 
hang, so wirkt die in dem einen Staat erteilte 
Abolition absolut, wenn sie erteilt wird, bevor die 
Sache bei dem Gericht des andern Staats an- 
hängig gemacht ist. - 
Im Gebiet des Deutschen Reichs ist Sub- 
jelt der Begnadigung für diejenigen Strafsachen, 
in welchen das Reichsgericht in einziger Instanz 
oder ein elsaß-lothringisches Gericht oder ein 
Begnadigung. 
  
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Marinegericht oder in welchem ein Konsul oder 
ein Konsulargericht oder eine Behörde in den 
Schutzgebieten in erster Instanz erkannt hat, sowie 
für Disziplinarstrafen der Reichsbeamten und für 
die von den Reichsverwaltungsbehörden erlassenen 
Strasverfügungen der Kaiser, in allen andern 
Straffällen, sowohl bei Zivilpersonen als Personen 
des Soldatenstandes der Landesherr bzw. in den 
republikanischen Hansestädten der Senat. Dies 
gilt auch für diejenigen Strafsachen, welche, wie 
die Beleidigung des Kaisers oder des Bundes- 
rats, wie Amtsverbrechen der Reichsbeamten, Zoll- 
und Steuervergehen, die Interessen des Reichs 
berühren. Das Begnadigungsrecht des Kaisers 
besteht nur in dem Recht, erkannte Strafen zu 
erlassen. — Ein landesherrliches Gnaden- 
recht steht dem Staatsoberhaupt nur bezüglich 
derjenigen Strafsachen zu, in welchen ein Gericht 
oder eine Behörde seines Gebietes in erster In- 
stanz erkannt hat. Ein anderer Staat ist zur Er- 
teilung der Begnadigung nicht befugt; dies gilt 
selbst dann, wenn die Sache nach Eröffnung der 
Untersuchung von dem ursprünglich befaßten Ge- 
richt auf ein einem andern Staat angehörendes 
Gericht übertragen wird, mag letzteres zuständig 
sein oder nicht. Soweit ein Gericht erster Instanz 
für einen in mehreren Staaten belegenen Bezirk 
bestellt ist, ist die Ausübung des Begnadigungs- 
rechts durch Staatsverträge geregelt. Wird infolge 
von in mehreren Staaten vorgekommenen Ver- 
urteilungen von einem Erstinstanzgericht auf eine 
Gesamtstrafe erkannt, so steht dem Landesherrn 
dieses Gerichts, und wenn dasselbe das Reichs- 
gericht sein sollte, dem Kaiser das Begnadigungs- 
recht zu. Sind die Einzelstrafen von Gerichten 
verschiedener Staaten erlassen, so ist jeder Staat 
für den Teil der Strafe begnadigungsberechtigt, 
den er nach der Vereinbarung vom 11. Juni 1885 
zu vollstrecken hat. Die Begnadigung ist von dem 
Kaiser sowie dem Staatsoberhaupt persönlich aus- 
zuüben, der Gnadenerlaß ist durch den Reichskanzler 
bzw. einen Minister gegenzuzeichnen. Durch diese 
Gegenzeichnung übernimmt jedoch der Minister 
nicht, wie für andere Regierungsakte des Mon- 
archen, auch die Verantwortlichkeit für die Be- 
gnadigung. Die Kontrasignatur hat nur den Zweck, 
die Gewißheit des Willens und der Unterschrift 
des Landesherrn außer Zweifel zu stellen. — Für 
minder wichtige Fälle ist in einzelnen Staaten das 
Begnadigungsrecht den Ressortministern 
delegiert. In Preußen kann z. B. in Steuersachen 
der Finanzminister, bei Forstfreveln der Landwirt- 
schaftsminister, bei einzelnen Ubertretungen an- 
derer Strafgesetze der Justizminister Geldstrafen 
bis zu 30 M niederschlagen oder herabmindern. 
Nach der Militärstrafgerichtsordnung für das 
Deutsche Reich vom 1. Dez. 1898 bedürfen kriegs- 
gerichtliche Urteile der Bestätigungsorder zu ihrer 
Vollstreckbarkeit. Diese hat mit der Begnadigung 
nichts zu tun. — Während den Kaiser die ihm 
zustehende Gnadengewalt nur zu Einzel- und
	        
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