Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

49 
Teil auf die Befriedigung von Luxuswünschen 
abzielenden Zivilisation. Die großen Vorteile, 
welche daraus hervorgehen, daß Länder und Völker 
durch die technischen Fortschritte einander näher 
gebracht werden, ist anzuerkennen; nicht zu über- 
sehen aber ist der Umstand, daß dieselben Erfin- 
dungen und Leistungen der Technik auch dem 
Kriegsapparate dienen. — Betrachtet man die Ab- 
rüstungsfrage von der praktischen Seite, so er- 
scheint sie noch verwickelter. Es ist zu unterscheiden, 
ob man die Absicht hat, mit reduzierten 
Heeren Krieg zu führen, oder ob man die Armeen 
nur während des Friedens reduziert wissen 
will. Im ersteren Fall müßte die Reduktion nach 
Verhältniszahlen durchgeführt werden, ein schein- 
bar einfacher Vorgang, welcher jedoch auf unüber- 
windliche Hindernisse stoßen würde, weil die ex- 
ponierte Lage der Staaten, ihre natürlichen oder 
künstlichen Grenzen, die Befestigungen und ander- 
weitigen Vorteile in das Gewicht fallen müßten. 
Im letzteren Fall wäre zu erwägen, daß die meisten 
Wehrmächte Kaderheere haben, aufgebaut auf ein 
stark entwickeltes Reservesystem. Um die in das- 
selbe eingegliederte Mannschaft für den Krieg zu 
schulen, kann man die Stämme unter ein ziemlich 
sest begrenztes Maß gar nicht heruntersinken 
lassen, da sonst der Ausbildung sich beträchtliche 
Schwierigkeiten entgegenstellen. Auch ist diese Aus- 
bildung in den verschiedenen Staaten und Ge- 
bietsteilen eine höchst verschiedene, je nach der 
Veranlagung und dem Bildungsgrad einer Be- 
völkerung, dem Klima, der geographischen Lage 
eines Staats als Binnen= oder Seestaat. Aber 
die Abrüstung erscheint nicht bloß als eine Illusion, 
sondern hätte auch, wäre sie zu bewerkstelligen, 
unverkennbare Nachteile im Gefolge; vor allem 
die Verlängerung der Kriege. Denn Armeen, 
welche sofort mit der ganzen Kraft des Landes aus- 
gerüstet werden und sich alle Vorteile der Kriegs- 
kunst zu eigen gemacht haben, werden eine Ent- 
scheidung weit schneller herbeiführen als kleine, 
mangelhaft ausgebildete Heere, die erst nach und 
nach weitere Kräfte an sich ziehen. Besser große 
Herre und kurze Kriege, als kleine Heere und lange 
riege. Die tiefen Schädigungen der National- 
wohlfahrt, die Zerrüttung der Friedensordnung, 
der Rechtspflege, der Volkswirtschaft, der sani- 
tären Verhältnisse sind denn auch mit wenigen 
Ausnahmen die Folge langwieriger, mit kleinen 
und wenig kriegstüchtigen Armeen geführter 
Feldzüge gewesen. Erwägt man noch, daß das 
Heerwesen eine erziehliche Aufgabe hat: die 
Angewöhnung des Sinnes für Ordnung und 
Pünktlichkeit, des Gehorsams und der Pflicht- 
treue, der Achtung vor dem Gesetz, der Selbst- 
zucht und Selbstbeherrschung, so werden die Er- 
haltungskosten stehender Heere durch moralische 
Vorteile aufgewogen. — Gelänge es aber einer 
internationalen Konferenz, die Abrüstung durch- 
zuführen, so würde hierin eher eine Vermehrung 
der Kriegsursachen gelegen sein als eine Vermin- 
Abrüstung. 
  
50 
derung, denn jede auch nur scheinbare Außeracht- 
lassung der getroffenen Vereinbarung würde zu 
neuen Beschwerden, Reibungen und Feindselig- 
keiten Anlaß bieten. — Hiermit sind die für und 
gegen die Abrüstung geltend gemachten Gründe in 
der Hauptsache angedeutet. — Eine vorurteilsfreie 
Würdigung derselben wird zu dem Schluß ge- 
langen, daß die Abrüstung nicht das erste, sondern 
das letzte Glied in der Pere der Sozialprobleme 
bilden kann, welche in unsern Tagen so viel zu 
denken geben. UÜberblickt man die Ereignisse der 
jüngsten Zeit, so muß man sagen, daß die Fried- 
fertigungsidee insofern an Vertiefung gewonnen 
hat, als jeder Staat die Verantwortlichkeit emp- 
findet, welche mit der voreiligen Anfachung eines 
großen Krieges verbunden ist. Die Tendenz der 
großen Wehrmächte ist unverkennbar darauf ge- 
richtet, die Interessengegensätze, welche die Zivili- 
sation eher verschärft denn abgeschwächt hat, nicht 
vor Erschöpfung aller diplomatischen Mittel durch 
den Krieg auszutragen. 
4. Die Abrüstung auf den Haager 
Friedenskonferenzen. Neue Anregung 
erhielt die Friedenspolitik und die Idee des 
Rüstungsstillstandes durch die Friedenskund- 
gebung Kaiser Nikolaus' II. vom 12./24. Aug. 
1898. Die leitende Idee ist klar und bestimmt 
folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Im 
Lauf der letzten zwanzig Jahre haben sich die 
Wünsche nach einem allgemeinen Frieden im 
Bewußtsein der zivilisierten Völker außerordent- 
lich befestigt. Die Erhaltung des Friedens wurde 
als der Zweck der internationalen Politik be- 
zeichnet; in ihrem Namen haben die großen 
Staaten untereinander mächtige Allianzen ge- 
schlossen; um den Frieden wirksamer sicherstellen 
zu können, haben sie in bisher ungeahnter Aus- 
dehnung ihre militärischen Streitkräfte entwickelt, 
und sie setzen diese Tätigkeit noch immer fort, ohne 
vor einem Opfer zurückzuscheuen. Indessen ver- 
mochte man trotz aller dieser Opfer noch nicht zu 
den wohltätigen Ergebnissen der ersehnten Pazi- 
fikation zu gelangen. Die in aufsteigender Rich- 
tung sich bewegenden finanziellen Lasten treffen 
die öffentliche Wohlfahrt an ihrer Wurzel sowie 
die intellektuellen und physischen Kräfte der Völker. 
Arbeit und Kapital sind zum überwiegenden Teil 
ihrer natürlichen Bestimmung entfremdet und 
werden in inproduktiver Weise aufgezehrt. Hun- 
derte von Millionen werden zur Anschaffung von 
schrecklichen Zerstörungswerkzeugen verwendet, 
welche, heute als das letzte Wort der Wissenschaft 
betrachtet, morgen infolge irgend einer neuen Ent- 
deckung auf diesem Gebiet all ihren Wert ver- 
lieren. Nationale Kultur, wirtschaftlicher Fort- 
schritt, Erzeugung des Wohlstands erscheinen ge- 
lähmt oder in ihrer Entwicklung behindert.. 
Der bewaffnete Friede unserer Zeit wird auf diese 
Weise zu einer erdrückenden Last, welche die Völker 
immer schwerer zu ertragen vermögen. Es ist da- 
her augenscheinlich, daß, wenn diese Lage länger 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.