Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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haupt bei den indogermanischen Völkern die Ober- 
hand, wenngleich im großen und ganzen nur die 
besser Situierten Anteil an ihr hatten. Das ge- 
wöhnliche Volk mußte durchgehends mit der 
Beerdigung vorlieb nehmen, und Massenbeerdi- 
gungen wurden nach größeren Schlachten, zumal 
in holzarmer Gegend, entgegen dem von Plinius 
angeführten Ursprung der Leichenbrände allgemein 
gebräuchlich. Auch heutzutage machen indische 
Völker, welche ihre Toten sonst verbrennen, bei 
ungewöhnlich großen Anhäufungen von Leichen, 
z. B. bei Choleraepidemien, von der Beerdigung 
Gebrauch. — „Die Christen begruben, weil im 
Alten Testament nur begraben worden und weil 
Christus aus dem Grabe erstanden war; hierzu 
trat, daß die christliche Lehre ihrem ausgleichenden 
Wesen nach den Unterschied der Stände aufhob 
und den Armen wie den Reichen, den Knecht wie 
den Herrn bestattet wissen wollte, also ein Vor- 
recht des Adels auf den Leichenbrand nicht länger 
bestehen durfte“ (J. Grimm). Wo das Christen- 
tum sich ausbreitete, hörten die Leichenbrände 
auf und blieben nur noch als entehrende Strafe 
für gewisse Verbrechen bestehen. Erst die fran- 
zösische Revolution brachte die Leichenverbren- 
nung wieder auf die Tagesordnung. Der Ent- 
wurf eines Gesetzes, welches sie obligatorisch 
machen sollte, lag bereits vor, als Napoleon sich 
der Gewalt bemächtigte und somit die Ausfüh- 
rung des Planes unterblieb. Gleichwohl ist seit- 
dem und besonders wieder seit den revolutionären 
Bewegungen der 1840er Jahre die Angelegen- 
heit vielfach diskutiert worden. Der Germanist 
Jakob Grimm erörterte sie in einer in der Ber- 
liner Akademie vorgetragenen Abhandlung sehr 
eingehend vom historischen und kulturgeschicht- 
lichen Standpunkt und sprach sich sehr zugunsten 
der Leichenverbrennung aus, der er poetische und 
ästhetische Gesichtspunkte abzugewinnen suchte 
(Grimm, Über das Verbrennen der Leichen, eine 
in der Akademie der Wissenschaften am 29. Nov. 
1849 gehaltene Vorlesung. Berlin 1850). Mit 
den 1870er Jahren begann eine in größerem 
Maßstab angelegte Agitation für Einführung der 
Leichenverbrennung. Abhandlungen in gelehrten 
und unterhaltenden Zeitschriften, populäre Bro- 
schüren und Vorträge suchten in diesem Sinn 
die öffentliche Meinung zu gewinnen, und nament- 
lich sind es die in größeren Städten Italiens, 
Frankreichs, Deutschlands und anderer Länder 
zur Förderung der fakultativen Feuerbestattung 
gegründeten Vereine (in Deutschland allein 110), 
welche eifrig für die Idee der Kremation Propa- 
ganda machen, Fonds zur Errichtung von Krema- 
torien sammeln und die Erlaubnis zur Benutzung 
derselben, d. h. die fakultative Leichenverbrennung 
durch Anträge bei den Parlamenten und Regie- 
rungen zu erwirken suchen. In Italien wurde 
die fakultative Leichenverbrennung durch könig- 
liches Dekret, in Frankreich durch Beschluß der 
Deputiertenkammer (1887) für zulässig erklärt. 
Begräbniswesen. 
  
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Ende der 1870er Jahre begann die Einrichtung 
von Krematorien in Gotha, Zürich und später in 
Mailand. 1904 bestanden 84 Krematorien, wo- 
von auf Italien 28, die Vereinigten Staaten 26, 
England 9, Deutschland 7, Schweiz 4, Frank- 
reich 3 entfielen. Erlaubt und gesetzlich geregelt 
ist die fakultative Feuerbestattung in Sachsen- 
Coburg = Gotha, Sachsen -Weimar-Eisenach, 
Hessen, Baden, Hamburg, Bremen, Königreich 
Sachsen und Württemberg, sowie in den meisten 
außerdeutschen Staaten und außereuropäischen 
Kulturländern. Der preußische Landtag hat die 
Einführung der fakultativen Feuerbestattung bis- 
her abgelehnt. In Deutschland wurden 1906 in 
13 Krematorien 2061 Verbrennungen vor- 
genommen. — Durch Anwendung von Leuchtgas 
und Zuführung von Preßluft hat man in Ofen 
neuester Konstruktion Temperaturen bis zu 17000 
erzielt und dadurch die Verbrennungsdauer auf 
40 Minuten herabgesetzt. Die sich ergebenden 
Aschenreste werden nach altrömischer Sitte in 
Urnen in den Wandnischen der Urnenhallen, sog. 
Kolumbarien, reihenweise beigesetzt. 
Man kann die für die Leichenverbrennung vor- 
gebrachten Gründe in wirtschaftliche und 
sanitäre trennen. Von den ersteren betont man 
die ökonomischen Vorteile, welche das Preisgeben 
der Kirchhöfe mit sich brächte, weil diese eine im 
Lauf der Zeit immer mehr sich vergrößernde 
Bodenfläche beanspruchten, und zwar gerade an 
den für die Bodenkultur wichtigsten Stellen, d. h. 
in der Nähe der Ortschaften und Städte. Vom 
sanitären Gesichtspunkt aus wollte man glauben 
machen, daß die (doch nur ausnahmsweise vor- 
kommendel!) Leichenwachsbildung zur Verbreitung 
von Seuchen führen könne; daß die Luft der 
Kirchhöfe durch Kohlensäure und andere dem 
Boden entsteigende giftige Gase und durch Spalt- 
pilze verpestet sei; daß Bakterien und Fäulnis- 
stoffe, welche in den Boden der Kirchhöfe ein- 
sickerten, durch Wasseradern den Trinkbrunnen 
zugeführt würden. Man wies auf die früher in 
Kirchen und Klöstern bei Eröffnung von Grüften 
vorgekommenen Vergiftungs= und Todesfälle hin 
und pries die Verbrennung als wirksamste Ga- 
rantie gegen das Begraben von Scheintoten. 
Es braucht hier nicht besonders darauf hin- 
gewiesen zu werden, daß sowohl die ökonomischen, 
wie die sanitären Nachteile der Erdbestattung 
größtenteils ad hoc, d. h. zu Propagandazwecken, 
konstruiert und vielfach vergrößert worden sind. 
Von ersteren ist praktisch fühlbar und ernsthaft 
diskutabel in manchen Fällen allein die Raum- 
frage insofern, als bei der heutigen raschen 
Ausdehnung der Großstädte und den dadurch in 
der Peripherie steigenden Bodenpreisen die Be- 
schaffung größerer Areale zu Friedhofszwecken in 
nächster Nähe der Städte immer schwieriger und 
zum Teil unmöglich wird. Durch Verlegung der 
Neuanlagen in die weitere Peripherie der Städte 
ließ sich unter Berücksichtigung ausreichender Ver-
	        
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