Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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1890 zugrunde liegt. — Da nach der Beobach- 
tung der sächsischen Bezirksärzte die Leichen in 
Grüften mindestens ebenso schnell als in durch- 
lässigem Boden verwesen und die seltenen Fälle 
von Mumifikation in Kloster= und Kirchenkellern 
keine hygienischen Bedenken veranlassen, so sind 
Grüfte im allgemeinen als zulässig zu erachten; 
jedoch ist das Betreten derselben mit denselben 
Sicherheitsmaßregeln zu umgeben, wie das Ein- 
steigen in Gruben, alte Brunnenschächte usw. Eine 
besondere Aufmerksamkeit ist endlich der Bepflan- 
zung der Friedhöse und bei größeren den unum- 
gänglich notwendigen Gebäuden (Kapelle, Leichen- 
haus, Sektionszimmer, Totengräber= bzw. Ver- 
walterwohnung) sowie der Verwaltung selbst 
zu schenken. Betreffs der letzteren handelt es sich 
um ordnungsmäßiges Buchen der Leichen und 
Grabstellen (Situationsplan mit Bezeichnung der 
Nummern und Reihen der Gräber), um eine Be- 
gräbnisordnung, Festsetzung des Verfahrens bei 
Wiedereröffnung von Gräbern usw. Nach großen 
Epidemien und Schlachten ist dem Begräbnis- 
wesen, weil es sich um Massengräber in oft 
ungeeigneter Bodenart handelt, von seiten der 
Sanitätsbehörden eine ganz besondere Aufmerk- 
samkeit zu schenken. Hier wird speziell das Des- 
infizieren der Leichen und Gräber in Betracht 
kommen. — Der Staat hat das Recht und die 
Verpflichtung, die öffentliche Ordnung bezüglich 
des Begräbniswesens dadurch aufrechtzuerhalten, 
daß er jede mißbräuchliche Benutzung der Leichen 
mit schweren Strafen ahndet und die Wahrung der 
Pietät gegen die Toten überwacht, so daß er keine 
unwürdige, lächerliche oder obszöne Bestattungs- 
weise duldet. Ebenso haben seine berufenen Or- 
gane bei Leichenzügen die öffentliche Ordnung 
aufrechtzuerhalten, um jede unpassende Störung 
zu verhindern und gegen etwaige Mißbräuche, 
welche mit einem Leichenbegängnis zum Zweck 
politischer Demonstrationen, Aufwieglungen u. dgl. 
getrieben werden können, einzuschreiten. 
II. Es ist hier nicht der Ort, die bei den ver- 
schiedensten Völkern und Kulten üblichen Be- 
stattungszeremonien zu besprechen, sondern nur 
auf die in der christlichen Kirche durch uraltes 
Gewohnheitsrecht auch staatsrechtlich begründeten, 
mehr oder weniger feierlichen Formen der Vor- 
nahme von Beerdigungen hinzuweisen. Das Recht 
des Staates auf das Beerdigungswesen, welches 
unter andern im preußischen Landrecht TI II, 
Tit. 2, 8§ 184 186 188 189 und 764, sowie 
in dem kaiserl. Dekret vom 23. Prairial XII (1804) 
Art. 1/6 Ausdruck gefunden hat, erleidet eine 
Einschränkung durch die Selbständigkeit, welche der 
Kirche in der Ausübung des Zeremoniells bei Be- 
stattung der Toten zukommt, sowie in dem faktischen 
Besitzstand der Friedhöfe seitens vieler Kirchen- 
gemeinden, worüber das Landrecht TI II, 8§ 183 
bestimmt: „Kirchhöfe oder Gottesäcker und Be- 
gräbnisplätze, welche zu den einzelnen Kirchen ge- 
hören, sind der Regel nach Eigentum der Kirchen- 
Begräbniswesen. 
  
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gesellschaften.“ — Die Christen der ersten Jahr- 
hunderte, besonders die römischen, pflegten ihre 
Toten mit Vorliebe möglichst nahe der Stätte, 
wo die Geheimnisse des Glaubens gefeiert wurden 
(in den Cömeterien der Katakomben), beizusetzen. 
um den engen Anschluß der Glieder an das Haupt, 
Christus, zu bekunden. Daraus ging die Sitte 
hervor, die Leichen innerhalb der Mauern der 
Kirchen und der äußeren Einfriedigungen der 
letzteren, der „Kirchhöfe“, „Friedhöfe“, beizusetzen. 
Es verstand sich von selbst, daß diese Bestattungen 
mit aller dem heiligen Ort schuldigen Ehrfurcht 
vorgenommen wurden und daß sich ein gewisses 
Rituale für solche Gelegenheiten ausbildete, 
welches in Einsegnung der Leiche, Gebeten, Ein- 
weihung der Begräbnisstätte und dem in Ver- 
bindung mit der Beisetzung erfolgenden Meßopfer 
besteht. Je weiter später dem Zwang der Not 
folgend die Gräberstätten von dem ursprünglichen 
heiligen Ort der Kirche selbst entfernt werden 
mußten, um so sorgfältiger wurde ihr ehrwürdiger 
Charakter gewahrt durch Einweihung des ganzen 
Gottesackers, sowie durch besondere Einweihung 
eines jeden einzelnen Grabes oder Gewölbes vor 
der Benutzung. Der der leiblichen Auflösung 
dienende Akt der Beerdigung ist also dem Christen 
zugleich ein religiöser, von Christus selbst geheiligter 
und von seiner Kirche durch die dabei gespendeten 
Sakramentalien ausgezeichneter Akt, an welchem 
Anteil zu nehmen der Katholik sich zur Ehre und 
zum Verdienst rechnet. Das kanonische Recht 
definiert die Beerdigung als Beisetzung einer Leiche 
in ritueller Form an einem benedizierten Ort. 
Die Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses ist 
eine schwere Strafe für offenkundige, vor dem Tod 
nicht mehr gesühnte Verachtung der Kirchengebote, 
wie sie frivole Glaubensspötter, nicht geisteskranke 
Selbstmörder u. a. bewiesen haben. Die Bei- 
setzung nicht geisteskranker Selbstmörder außerhalb 
der Reihe auf einem Abspliß des Kirchhofs ist 
eine althergebrachte Gewohnheit und erfüllt an 
und für sich nicht den Tatbestand eines „unehr- 
lichen Begräbnisses“" im Sinn des Staates, wes- 
halb im Einzelfall der Staat, ohne dessen Er- 
lenntnis niemand das ehrliche Begräbnis auf 
dem öffentlichen Kirchhof versagt werden kann, 
obige Anordnung gestattet (Urteil des kgl. Ober- 
verwaltungsgerichtes vom 14. Juni 1907). 
Aus der historischen Entwicklung des kirchlichen 
Begräbniswesens geht mit Sicherheit hervor, daß 
die Kirchengemeinden oder Kirchenfabriken das 
Eigentumsrecht ihrer Friedhöfe von alters her voll 
besitzen. Dies schließt das allgemeine und sanitäts- 
polizeiliche Aufsichtsrecht des Staates in keiner 
Weise aus. Die Regierungen verschiedener In- 
stanzen üben dasselbe fortlaufend durch Erlasse 
und Verfügungen aus, zu denen mißbräuchliche 
oder fehlerhafte Gewohnheiten einzelner Gegenden 
Veranlassung geben. So untersagt die eine Be- 
zirksregierung die nächtlichen Leichenwachen, die 
andere verbietet den Hebammen, Leichenwaschungen
	        
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