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Religion überhaupt oder doch das Christentum für
einen „überwundenen Standpunkt“ erklärt und
gegenüber den christlichen Bekenntnissen eine Gleich-
gültigkeit zur Schau trägt, die nur der Ausdruck
der persönlichen Glaubenslosigkeit sein kann. —
Vgl. A. Koch, Lehrb. der Moraltheologie (1907)
304 ff; de Lamennais, Essai sur D’indifférence
en matieère de religion (2 Bde, Par. 1843).
Nun ist es aber auch in Glaubenssachen nur
die Wahrheit, welche dem religiösen Denken
Ziel und Richtung gibt, und die Wahrhaftig-
keit, welche dem wahrheitsliebenden Menschen
als sittliches Pflichtgebot auferlegt wird. Weil es
aber nur eine Wahrheit geben und unter den vielen
Religionen nur eine die wahre sein kann, so folgt,
daß der wohlerwogene Widerspruch gegen den
Irrtum, wo immer er sich finde, im Grund ge-
nommen nichts anderes ist als der in die persön-
liche Gesinnung umgesetzte Antagonismus zwischen
Wahrheit und Unwahrheit, die sich beide als un-
persönliche Widersacher schroff gegenüberstehen und
nach dem Prinzip des Widerspruchs ein Mittleres
zwischen sich nicht dulden. Daher die peinliche
und doch unpersönliche Zuspitzung der Gegensätze
im Wettkampf der Weltanschauungen, welcher
heute auf der ganzen Linie entbrannt ist und von
einer zwar großen Zerfahrenheit der Ansichten,
aber doch auch von einem lebhaften Suchen nach
der Wahrheit beredtes Zeugnis ablegt. Selbst wo
die skeptisch angekränkelte Meinung vorherrscht,
daß „die Wahrheit unauffindbar im tiefen Brunnen
begraben liegt“, da wird die Objektivität der
Wahrheit nicht schlechthin in Abrede gestellt, son-
dern als unendlich fernes Ziel fest im Auge be-
halten, wenn man sich auch einzureden sucht, daß
dieselbe nur annäherungsweise nach Art einer
Asymptote erreicht werden kann. Die in solcher
Gesinnung sich aussprechende Reinheit der Wahr-
heitsstimmung wächst sich von selbst wie zum Maß-
stab, so zum Kriterium für die Art der Pole-
mik, namentlich der religiösen, aus, die jemand
gegen seine Widersacher zu führen sich berufen
fühlt. Denn wem es nur um die Sache, nicht um
die Person zu tun ist, der wird sich von selbst aller
persönlichen Invektiven und verletzenden Seiten-
hiebe enthalten, wird seinen immer blanken Ehren-
schild niemals durch Ehrenkränkung oder Verleum-
dung beflecken, da er sich bewußt bleibt, daß die
Sache der Wahrheit, die er verficht oder ehrlich
zu verfechten glaubt, nicht nur keine Schimpffrei-
heit nötig hat, sondern auch wegen ihres ange-
bornen Hoheitsadels nicht verträgt. Einen solchen
idealen Menschen nennt der Engländer mit dem
unübersetzbaren Wort: Gentleman. Nur den un-
gerechten, hämischen, verleumderischen, beleidigen-
den Angriff darf auch er durch noblen Gegenhieb
parieren, weil der Gegner kein Recht auf Schimpf-=
freiheit, Geschichtsfälschung, unlautere Proselyten-
macherei usw. besitzt und deswegen ohne Rechts-
verletzung in seinem Unrecht gestört werden darf.
Alle diese Grundsätze gelten ganz allgemein für
Bekenntnisfreiheit. 702
alle Menschen, welche wirklich oder vermeintlich
um die Wahrheit kämpfen, für Gelehrte und
Künstler, Staatsmänner und Politiker, Katho-
liken und Protestanten. — Über Wahrheitsliebe
vgl. G. Ratzenhofer, Positive Ethik (1901) 261
294; A. Koch, Moraltheologie (21907) 456 ff.
b) Was dem Alltagsmenschen recht ist, das ist
der Kirche billig. Es zeugt von wenig Ver-
ständnis und Billigkeitsgefühl, wenn man der
katholischen Kirche ihre unnahbare Stellung zum
Glauben und zur Glaubensfreiheit zum Vorwurf
macht, anstatt ihr Verhalten sich psychologisch aus
ihrem unerschütterlichen Bewußtsein zu erklären,
daß sie vom Gottmenschen Jesus Christus selbst
als „Säule und Grundfeste der Wahrheit"
(1 Tim. 3, 15) gegründet und mit der Voll-
gewalt zu lehren, zu regieren und zu heiligen
ausgerüstet worden ist. Da die christliche Wahr-
heit nicht mit „doppeltem Boden“ arbeitet, so
muß auch sie, wie alle Wahrheit, auf Herrschaft
und Alleinberechtigung Anspruch erheben. Eben
darum fordert die Kirche die bedingungslose An-
nahme aller kraft göttlichen Lehrauftrags von ihr
gepredigten und zum Glauben vorgestellten Wahr-
heiten, das Herrenwort hinausrufend (Mark. 16,
6: Quicrediderit et baptizatus fuerit, salvus
erit; qui vero non crediderit, condemnabitur.
Gäbe sie in Gewährung einer mißverstandenen
Glaubensfreiheit ihren Glauben, ihre Verfassung
und ihre Heiligungsmittel für jedermann frei, wie
dies der moderne Staat tut und nach Maßgabe
der bestehenden Verhältnisse tun muß, so beginge
sie nicht nur einen schändlichen Frevel an ihrer
gottgesetzten Bestimmung und Aufgabe, sondern
sie würde auch durch feige Anlegung der Axt an
ihre eigenen Wurzeln einen schnöden Selbst-
mord begehen. Wie Gott keine fremden Götter,
so kann die wahre Kirche theoretisch keine falschen
Kirchen neben sich dulden, d. h. als innerlich gleich-
berechtigt ansehen. Und gerade hierin liegt ihre
einzigartige Stärke, ihre imponierende Größe, ihre
überwältigende Werbekraft; hier auch liegt der
Schlüssel ihres unaufhaltsamen Siegeszuges durch
die Welt trotz aller Verfolgungen. — Vgl. Schmidt,
Die Kirche, ihre biblische Idee und die Formen
ihrer geschichtl. Erscheinung in ihrem Unterschied
von Sekten und Häresie (1884); Brüll, Die
wahre Kirche Christi (1903); E. Commer, Die
Kirche in ihrem Wesen und Leben (1904).
Nur eine streng logische Konsequenz aus dieser
Grundanschauung ist das kirchliche Dogma von
der „alleinseligmachenden Kirche“ (extra
Ecclesiam nulla salus), dessen Wesen und Trag-
weite unter gebildeten Nichtkatholiken so vielen
Mißverständnissen begegnet. Und dennoch steht
dasselbe mit dem oben dargelegten Prinzip der
Wahrheit und Wahrheitsliebe in notwendiger und
engster Beziehung. Wenn nämlich Christus dem
Menschen grundsätzlich kein Optionsrecht, zur
Kirche gehören zu wollen oder nicht, eingeräumt
hat, so muß die Idee eines „freiwilligen Vereins“,