Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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willigkeit gegen die vorgesetzten Behörden unge- 
mein fördert. Eine solche Kirche mit solcher Ver- 
gangenheit hat einen berechtigten Anspruch dar- 
aus, nicht mit scheelen Augen angesehen, sondern 
mit rückhaltlosem Vertrauen und Entgegenkommen 
behandelt zu werden. — Vgl. Bruders, Verfassung 
der Kirche vom ersten Jahrzehnt der apostol. Wirk- 
samkeit an bis zum Jahr 175 (1903); Baum- 
garten, Das Wirken der kathol. Kirche auf dem 
Erdenrund unter besonderer Berücksichtigung der 
Heidenmissionen (1901). J.P. Kirsch u. V. Luksch, 
Gesch. der kath. Kirche (1906). 
Der vorhin gezeichneten Bekenntnisfreiheit, 
welche die katholische Kirche als ein göttlich ver- 
brieftes Recht niemals preisgab und, wenn es be- 
droht oder verkümmert war, immer wieder für sich 
reklamierte, trat allerdings die neuzeitliche Staaten- 
entwicklung seit der Reformation vielfach hindernd 
und hemmend in den Weg. Die Veranlassung 
war kurz folgende: Nachdem die protestantisch ge- 
wordenen Länder das Papsttum und die kirchliche 
Hierarchie durch das landesfürstliche Kirchenregi- 
ment verdrängt und ersetzt hatten, entstand für 
Juristen und Theologen die verzweifelte Aufgabe, 
die neureligiösen Verhältnisse, wie sie durch den 
Gang der politischen Ereignisse bis zum West- 
fälischen Frieden 1648 sich tatsächlich ausgestaltet 
hatten, nachträglich auch durch staatskirchenrecht- 
liche Theorien wissenschaftlich zu rechtfertigen. So 
entstanden der Reihe nach das Episkopalsystem 
von Carpzov (gest. 1666), das Territorial-= 
system von Hugo Grotius (gest. 1645) und das 
Kollegialsystem von Pufendorf (gest. 1694), 
deren Bedeutung und Tragweite an anderer Stelle 
zu würdigen ist. Hatte die (allen diesen Systemen 
gemeinsame) Übertragung der Kirchengewalt auf 
die Landesfürsten die Selbständigkeit der prote- 
stantischen Landeskirchen in der Wurzel vernichtet 
und infolge der Vereinigung der staatlichen und 
kirchlichen Macht in einer Hand zugleich die Wie- 
deraufrichtung des absoluten Königtums mächtig 
begünstigt, so war der natürliche Anstoß zum sog. 
Polizeistaat gegeben, der unter dem verderb- 
lichen Einfluß des Gallikanismus und Febronia- 
nismus am folgerichtigsten von Kaiser Joseph II. 
(1780/90) bis in alle Einzelheiten ausgebildet 
wurde und zu so kleinlichen Maßnahmen fort- 
trieb, daß der alte Fritz seinen katholischen Kol- 
legen spottweise den „Bruder Sakristan“ nannte. 
Daß der Polizeistaat trotz seines väterlichen Schutz- 
rechts (ius protectionis sive advocatiae) nur 
zur Bevormundung und Knechtung der Kirche in 
allen ihren Lebensäußerungen diente, beweisen bis 
zur Evidenz die vielen von ihm angemaßten und 
von Hoftheologen ausgeklügelten sog. Kirchen- 
hoheitsrechte, wie das Obereigentumsrecht 
über Kirchengut (ius dominü supremi), das 
Recht zu Vorsichtsmaßregeln gegen die Kirche (ius 
cavendi), das Aufsichtsrecht über Predigt und 
Katechese, Gottesdienst und Sakramentenspendung 
(ius supremae inspectionis), das Einspruchs- 
Bekenntnisfreiheit. 
  
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recht gegen kirchliche Glaubenserlasse und Diszi- 
bplinarvorschriften (ius placeti regii sive ex- 
equatur), das Recht zur Annahme von Appel- 
lationen gegen Mißbräuche der kirchlichen Amts- 
gewalt (ius appellationis seu recursus tam- 
duam ab abusu). Wenn zwar die heutigen Staa- 
ten die meisten dieser Vorrechte wieder fallen ließen, 
so fristen dennoch einzelne Überbleibsel in mehr 
oder minder abgeschwächter Gestalt ihr trauriges 
Dasein bis in die Gegenwart fort. Gegenüber 
solchen Bevormundungstendenzen hat Pius IX. 
in verschiedenen Rundschreiben sowie im Syllabus, 
Leo XIII. in seiner herrlichen Enzyklika Immor- 
tale Dei vom 1. Nov. 1885, endlich Pius X. in 
seiner Enzyklika Vehementer nos vom 11. Febr. 
1906 gegen das französische Trennungsgesetz ener- 
gisch den kirchlichen Standpunkt wahrgenommen. 
Wenn man behufs Verschleierung der staat- 
lichen Zurücksetzung der Katholiken und zur Be- 
schönigung der Bevorzugung der Protestanten 
neuerdings die Formel erfunden hat: „Nicht 
jedem das Gleiche, sondern jedem das 
Seine“, so sind wir in der Lage, auch aus 
diesem Axiom den Anspruch der katholischen Kirche 
auf uneingeschränkte Religionsfreiheit mit zwin- 
gender Logik abzuleiten. Denn wenn sich das 
suum cuique nach der eigentümlichen Verfassung 
einer bestimmten Kirche richten muß und wenn 
speziell die Verfassung der katholischen Kirche nach 
göttlichem und menschlichem Recht für sich als 
Ganzes wie für alle ihre Mitglieder volle Glau- 
bens-, Bekenntnis= und Kultusfreiheit fordert, so 
erheischt die elementarste Gerechtigkeit, daß der 
Staat dieses Recht auch faktisch zur Geltung kommen 
lasse, und zwar mit Einschluß aller Nebenrechte, 
welche aus dem Prinzip sich logisch ergeben, wie 
z. B. die selbständige Ordnung aller rein kirch- 
lichen Angelegenheiten, das Existenzrecht der geist- 
lichen Ordensgesellschaften u. dgl. Vom Staat 
verlangen, daß er unterschiedslos die gleichen Rechte 
auch allen protestantischen Bekenntnissen einräume, 
hieße nichts anderes als die Verfassung der katho- 
lischen Kirche mit den ganz anders gearteten 
Kirchenverfassungen der Landeskirchen auf gleiche 
Stufe stellen. Die protestantischen Konfessionen 
werden vernünftigerweise doch nur solche Rechte 
für sich beanspruchen, welche sie selbst als Ausfluß 
ihrer religiösen Eigenart und nicht als eine Be- 
leidigung ihrer religiösen Gefühle betrachten, wie 
z. B. das Recht auf Fronleichnamsprozessionen. 
Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine. 
— Zum Ganzen vgl. R. Scherer, Handbuch des 
Kirchenrechts 1 (1886) 20 ff; W. Martens, Die 
Beziehungen der Uberordnung, Nebenordnung und 
Unterordnung zwischen Kirche und Staat (1877); 
H. Singer, Zur Frage des staatlichen Oberauf- 
sichtsrechts (Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht V 
(18951 60 ff); J. B. Sägmüller, Die kirchliche 
Aufklärung am Hof des Herzogs Karl Eugen von 
Württemberg 1744/93 (1906); A. Hoch, Papst 
Pius X. Ein Bild kirchl. Reformtätigkeit (1907).
	        
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