Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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b) Gegenüber den Andersgläubigen stellt die 
Kirche das strenge Gebot der Nächstenliebe 
auf, die das Christentum zum höheren Ideal der 
Charitas oder Liebe des Nächsten um Gottes willen 
erhoben, verklärt und geadelt hat. Die aufrichtigste 
Liebe zum Irrenden ist sehr wohl vereinbar mit 
einer lebhaften Abneigung gegen den Irrtum, dem 
eine Person huldigt. Der hl. Augustin stellt als 
Lebensregel auf: Diligite homines, interficite 
errores; sine superbia de veritate praesumite, 
sine saevitia pro veritate certate (Contra lit. 
Petil. 1. 1, c. 29, n. 31, bei Migne, Patr. lat. 
XIIII 259). Gott ist ein Gott der Liebe: folg- 
lich können seine Kinder nicht Söhne des Hasses 
sein. Diese Gottes= und Nächstenliebe ist es, die 
das einträchtige und friedfertige Zusammenwohnen 
von Bürgern verschiedenen Glaubens in demselben 
Staatswesen erst möglich und erträglich macht. 
Wer den einen oder andern Freund unter Anders- 
gläubigen besitzt, dem gibt die persönliche Er- 
fahrung des Rätsels Lösung an die Hand, wie 
wahre und aufrichtige Freundschaft gegen die Person 
mit entschiedener Ablehnung aller ihrer Irrtümer 
recht wohl zusammen bestehen kann. Indem die 
Kirche in ihrer Liturgie den Katholiken anleitet, 
für die Irrenden zu beten und durch Liebe sie wo- 
möglich für sich zu gewinnen, hat sie wieder nichts 
anderes als das Liebesgebot auferlegt. Für die 
ganze Menschheit hat ja auch der Erlöser in der 
Leidensnacht im hohenpriesterlichen Gebet inbrün- 
stig gefleht und am Kreuz sein kostbares Blut ver- 
spritzt. Das erhabene, zugkräftige Beispiel Jesu 
zeigt am besten den Weg, wie das Verhalten gegen 
Andersgläubige einzurichten sei. In das innere 
Heiligtum des fremden Gewissens forschend oder 
zweifelnd einzudringen, dazu hat niemand das 
Recht nach dem Grundsatz: Nemo praesumitur 
malus, nisi probetur. Gott allein ist der Er- 
forscher und Richter der Gewissen, jeder ist seinem 
Gott persönlich verantwortlich. Wenn der schuld- 
lose Glaubensirrtum vollends auch vor Gott von 
aller Sünde und Strafe freispricht, so hat der 
Katholik die bona fides der Irrenden erst recht 
als Regel vorauszusetzen und etwaige Ausnahmen 
dem gerechten Urteil Gottes allein zu überlassen. 
Er wird sich halten an das schöne Wort des Apostels 
(1 Kor. 13, 4): „Die Liebe ist geduldig, ist gütig; 
die Liebebeneidet nicht, handelt nichtunbescheiden.. 
sie läßt sich nicht erbittern, sie denkt nichts Arges.“ 
An dieser christlichen Liebe wird der echte Jünger 
Cbhristi erkannt. — Vgl. A. Dorner, Das mensch- 
liche Handeln. Philosophische Ethik (1895) 554 ff 
566 ff; M. Waldmann, Die Feindesliebe in der 
antiken Welt und im Christentum (1902); A. Koch, 
Lehrb. d. Moraltheol. 2442 f; V. Cathrein, Die 
kath. Moral (1907) 368 f. 
J) Aber hat die Kirche des Mittelalters, so höre 
ich empört fragen, das Liebesgebot in den grau- 
samen Ketzerverfolgungen nicht selbst mit 
Füßen getreten und in der Praxis wieder um- 
gestoßen, was sie in der Theorie freilich jederzeit 
Bekenntnisfreiheit. 
  
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mit honigsüßen Worten einschärfte? Hat sie nicht 
für sich Bekenntnisfreiheit gefordert, während sie 
für andere nur Glaubenszwang übrig hatte? Mit 
sichtlichem Behagen wühlen die Kirchenfeinde noch 
heute in den vergilbten Geschichtsakten, die uns 
von lodernden Scheiterhaufen, Inquisitionsge- 
richten, Autodafés, Folterwerkzeugen, Schreckens- 
kammern zu erzählen wissen. Gehen wir der Sache 
ohne Beschönigung der Tatsachen einmal auf den 
Grund und sehen wir zu, was der Vorwurf auf 
sich hat. Wir haben folgendes zu erklären. 
a) Zunächst verrät es einenempfindlichen Mangel 
an seinem Ton, wenn jemand die Kindeskinder 
unausgesetzt für die Missetaten ihrer Urgroßeltern 
verantwortlich macht oder einem braven Edelmann 
lieblos die unrühmliche Standesgeschichte seiner 
Vorahnen vor Augen hält, um ihn desto ungestörter 
an seinen Rechten kränken und mit lästigen Aus- 
nahmebestimmungen quälen zu können. Was kann 
der zeitgenössische Katholizismus, was die heutige 
Kirche dafür, daß längst entschwundene Geschlechter 
im Namen der Religion Grausamkeiten begingen, 
über welche die ganze Welt sich mit Recht entsetzt? 
Oder soll der moderne Protestantismus noch heute 
für ähnliche Vorkommnisse aus der Reformations- 
zeit büßen und harte Anklagen hören müssen, wo 
wir wissen, daß die Reformatoren und ihre Rechts- 
nachfolger unter Benutzung der damaligen Rechts- 
ordnung unbequeme und nach ihrer Ansicht ketze- 
rische Subjekte, wie den Nikolaus Krell in Dresden, 
die Antitrinitarier Servet und Sylvan, den Osian= 
dristen Funk usw., kurzerhand vom Leben zum 
Tod beförderten? Und will man Tausende von 
harmlosen Mitläufern der Sozialdemokratie, welche 
die letzten Ziele ihrer Führer nicht durchschauen, etwa 
haftbar machen für die blutigen Greueltaten der 
französischen Revolution 1793, der Pariser Kom- 
mune 1871, des russischen Aufstands 19057 Wie 
die Protestanten im Deutschen Reich sich die Un- 
taten ihrer Ahnen inner= und außerhalb Deutsch- 
lands hübsch fein vom Halse halten, so wehren sich 
auch die deutschen Katholiken dagegen, daß man 
ihnen die Ausschreitungen des Mittelalters in die 
Schuheschiebt. —Vgl. N. Paulus, Die Straßburger 
Reformatoren und die Gewissensfreiheit (1895); 
ders., Luther und die Gewissensfreiheit (1905); 
Historisch-politische Blätter CXXXVI (1905) 
161 ff; W. Köhler, Reformation und Ketzerprozeß 
(1901). 
6) Zum Verständnis des mittelalterlichen Ver- 
fahrens ist weiter hervorzuheben, daß die damalige 
Kirche genau so wie heute einen scharfen Unter- 
schied zwischen formellen und bloß materiellen 
Häretikern machte und ihre Strafgesetze nur gegen 
erstere in Vollzug setzte, die letzteren aber verschonte 
(vgl. A. Ballerini, Opus theol. morale, hrsg. von 
Palmieri II [Prato 1890] 59: Communior 
Sententia est, duamlibet ignorantiam, etiam 
crassam et affectatam, excusare ab haeresi 
et haereticorum poenis). Den Unterschied zeich- 
net A. Koch (Moraltheol. 2302): „Als hartnäckige 
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