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Volkssouveränität. Wer, wie J. J. Rousseau, das
gesamte Volk für den eigentlichen Träger der
höchsten Staatsgewalt hält, dem die Souveränität
wesentlich und unveräußerlich innewohnt, muß
folgerichtig auch dem Volk das Recht zuerkennen,
den Fürsten, der nur als erster Beamter den
Volkswillen vollzieht, nach freiem Ermessen zur
Rechenschaft zu ziehen, zu richten und abzusetzen,
ja selbst zum Tod zu verurteilen. Die Hinrich-
tung Ludwigs XVI. war nur die Konsequenz aus
der Theorie von der absoluten Volkssouveränität.
Ja nach dieser Theorie wird eine Revolution im
eigentlichen Sinn unmöglich, da das Volk sich
nicht gegen sich selbst empören kann. Die gewalt-
samen Volkserhebungen gegen die Monarchen sind
nur legitime Außerungen des souveränen Volks-
willens. In den „Menschenrechten“ der französi-
schen Konstitution von 1793 heißt es § 35: „Wenn
eine Regierung die Volksrechte verletzt, so ist für
das Volk und jeden Teil desselben die gewaltsame
Erhebung (Tinsurrection) die heiligste und uner-
läßlichste Pflicht.“ Da diese Theorie an einer
andern Stelle gewürdigt wird (s. d. Art. Volks-
souveränität), so braucht sie hier nicht widerlegt
zu werden. Mit der falschen Theorie bricht auch
von selbst das auf sie gegründete Recht der Ab-
setzung des Souveräns zusammen.
III. Wesentlich verschieden von der neueren
Volkssouveränitätstheorie ist die Theorie vieler
älteren Rechtslehrer, welche zwar die Staatsgewalt
nicht als reines Menschenwerk, sondern als ein
von Gott verliehenes Recht betrachten, aber der
Ansicht waren, der ursprüngliche Träger der
Staatsgewalt sei überall das gesamte, zu einem
Staat geeinte Volk; dieses übertrage dann seine
Gewalt auf eine oder mehrere bestimmte Personen
und höre somit auf, souverän zu sein. Nichts-
destoweniger könne es im Fall einer gemein-
schädlichen tyrannischen Unterdrückung zum Zweck
der Selbstverteidigung dem Fürsten den Krieg
erklären und ihn im Notfall absetzen; denn es
habe seine Gewalt nur unter der stillschweigend
vorausgesetzten Bedingung abgetreten, daß der
Fürst dieselbe nicht zum Verderben der Gesamt-
heit mißbrauche; die Nichteinhaltung dieser Be-
dingung von seiten des Monarchen verleihe dem
Volk das Recht, ihm die Souveränität wieder zu
entziehen. Ja einige meinten sogar, in einem
solchen Fall verliere der Fürst ipso facto seine
Gewalt, diese falle an das Volk zurück. Selbst-
verständlich werden dieser Lehre mancherlei Ein-
schränkungen und Kautelen beigefügt. So z. B.
gestatten sie eine solche Erhebung nur im Fall
einer äußerstharten und unverbesserlichen Tyrannei,
außerdem verlangen sie das Vorhandensein aller
derjenigen Bedingungen, welche zu einer gerechten
Kriegserklärung erforderlich sind. — Die hier
entwickelte Lehre wird vielfach als eine spezifisch
„jesuitische“ bezeichnet, weil sie sich beispielsweise
bei den Jesuiten Franz Suarez (De bello sect. 8;
Defensio fidei 1. 6, c. 4, n. 6) und Bellarmin
Absetzung.
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findet. Allein wie die Theorie von der Über-
tragung der Staatsgewalt überhaupt, so war auch
die als Schlußfolgerung daraus gezogene Ab-
setzungstheorie einst die fast allgemeine Ansicht der
Rechtsgelehrten und wurde nicht nur von Katho-
liken, sondern auch von Protestanten vorgetragen
(ogl. R. v. Mohl, Geschichte und Literatur der
Staatswissenschaften 1I L1855] 322 u. 324 A.,
und F. Walter, Naturrecht und Politik (1871)
Nr 533). — Über Luther bemerkt R. v. Mohl
(a. a. O. 322 A.), er sei von den Folgesätzen
seiner Lehre auf staatlichem Gebiet scheu zurück-
getreten. Dagegen behauptet H. Ahrens (Natur-
recht II (1871] 86 A.), Luther habe bei un-
gerechter Gewalt alle Pflichten zwischen Untertan
und Obrigkeit für aufgehoben und den Wider-
stand für erlaubt erklärt. Beide haben recht. Bis
zum Ausbruch der sozialen Revolution hatte Luther
förmlich zur Auflehnung gegen die seinem Evan-
gelium widerstrebenden Fürsten, diese „ärgsten
Buben auf Erden“, gemahnt und behauptet, „dem
Evangelio gegenüber hört alle Obrigkeit auf“.
Zahlreiche Belegstellen hierfür aus den eigenen
Schriften des Reformators bringt I. Janssen
(Gesch. d. deutschen Volkes seit d. Ausgang d. Mit-
telalters II17/1897 262 f522 ff). Ganz anders
lautete die Sprache Luthers, als die Revolution
niedergeworfen war und die Fürsten sich teilweise
der neuen Lehre zugewandt hatten. „Er und
Melanchthon verkündeten jetzt die dem christlich-
germanischen Recht gänzlich unbekannte politische
Lehre von der unbeschränkten Gewalt der Obrig-
keit über die Untertanen, forderten unbedingten Ge-
horsam gegen die Befehle der Obrigkeit, predigten
und lehrten förmlich den Knechtssinn und die Ge-
waltherrschaft.. Diese neue Lehre bildete von nun
an eine wesentliche Grundlage für die Verstärkung
der Fürstenmacht“ (Janssen a. a. O. III 7 (18991
23). — Die neue protestantische Doktrin vom
Summepiskopat und die damit zusammenhängende
Lehre vom unbedingten Gehorsam haben dem Re-
gentendespotismus, der seitder Reformation aufkam,
wesentlich als Grundlage gedient. Dieser Despo-
tismus hinwieder rief als natürliche Gegenwirkung
Umsturzbewegungen hervor. So kann man be-
haupten, daß die Lehre von der absoluten Fürsten-
gewalt ohne Zweifel mehr zur Revolution bei-
getragen hat als die sog. Absetzungstheorie. Denn
dieser wurden, wie wir schon oben andeuteten, von
ihren Anhängern so viele Bedingungen und Klau-
seln beigefügt, daß sie beinahe alle praktische Be-
deutung verlor. Deshalb wehren sich die bedeu-
tendsten unter ihnen schon ausdrücklich gegen den
Vorwurf, ihre Lehre sei revolutionär oder gebe
den Völkern gerechte Veranlassung zur Empörung
gegen ihre Fürsten (uogl. z. B. Suarez, Defensio
fidei 1. 3, c. 3, n. 3). Trotzdem geben wir gerne
zu, daß diese Lehre, wenn sie nach dem heutigen
Brauch „popularisiert“ würde, an sich leicht dem
Mißbrauch ausgesetzt sein könnte und deshalb mit
Recht von vielen aufgegeben wurde. Sie ist übri-