Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Auflehnung gegen die von Gott gesetzte Lehr- 
autorität der Kirche ist die formelle Häresie 
eine der schwersten und verderblichsten Sünden, 
indem sie das Fundament des Heilswerks zerstört. 
Im Gegensatz zu dieser haeresis formalis ist der 
materielle Frrglaube (haeresis materialis), 
d. h. der ohne Absicht und Bewußtsein des Wider- 
spruchs gegen die Kirchenlehre festgehaltene Glau- 
bensirrtum, an sich nicht sündhaft, es wäre denn, 
daß der Irrtum selbst unentschuldbar wäre. So- 
lange nämlich der Irrgläubige der festen Über- 
zeugung (bona fides) ist, den wahren Glauben 
Christi zu besitzen, befindet er sich in einem entschuld- 
baren Irrtum.“ Letztere Bedingung trifft in der 
Regel für alle Akatholiken zu, die in ihrer Konfession 
geboren und erzogen sind. Gegenüber Juden und 
Ungläubigen, welche ihr durch die Taufe niemals 
als Glieder angehörten, erklärte sich die Kirche 
stets auch dann als unzustän dig, wenn sie durch 
ihren Unglauben eine schwere Gottesbeleidigung 
begangen haben sollten. Kirchlicher Grundsatz war 
und ist: Der wahre Glaube ist ein freies Gnaden- 
geschenk, das nur durch Gnade und Gebeterworben, 
auf keinen Fall durch Gewaltmaßregeln erzwungen 
werden kann (vgl. Enzyklika Immortale Dei 
Leos XIII. vom 1. Nov. 1885 bei Denzinger, En- 
chir. Nr 1875: Atque illud quoque magnopere 
cavere Ecclesia solet, ut ad amplexandam 
fidem catholicam nemo invitus cogatur, quia 
duod sapienter Augustinus monet: „Credere 
non potest lhomo] nisi volens"“). Hieraus 
wird verständlich die kirchliche Toleranz gegen die 
Juden (ogl. Phillips, Kirchenrecht II, § 99) sowie 
das Verbot, heidnische Völker bloß um ihres Un- 
glaubens willen zu bekriegen, es wäre denn, daß 
sie die christlichen Missionäre umbringen oder, wie 
die Sarazenen, die christlichen Staaten angreifen 
(ogl. Schmalzgrueber, Lus can. tit. de ludaeis 
Nr 53). Eine Stelle im Decretum Gratiani 
(c. 4 iam vero C. 23 qu. 6) beweist nicht die Zu- 
lässigkeit kirchlichen Glaubenszwangs, da Papst 
Gregor der Große den christlichen Kolonisten auf 
seinen Gütern lediglich gewisse Vergünstigungen 
gewährte, die er den hartnäckig im Heidentum ver- 
harrenden Ansiedlern versagte. 
) Vom juristischen Standpunkt ist drittens zu 
bemerken: Wenn die alte Kirche gegen Apostaten 
und formelle Häretiker mit strengeren Strafen ein- 
schritt als heute, so handelte sie nicht als Privat- 
person, die nur Nachsicht und Liebe zu erweisen 
hat, sondern als rechtmäßige Obrigkeit, die 
auch das Ressort der sühnenden Strafgerechtigkeit 
zu pflegen verpflichtet ist. Auch der Staat kann 
ja den Diebstahl oder den Umsturz als abstrakte 
Größe nicht fassen, sondern muß beide am Dieb 
und Umsturzmann zur gesetzlichen Ahndung 
bringen. Wenn freilich die frühere Strafjustiz 
nicht nur gegen Apostaten und Ketzer, sondern 
auch gegen Straßenräuber, Hochverräter und Un- 
zuchtsverbrecher in überaus barbarische Formen 
gekleidet war, wie z. B. in der hochnotpeinlichen 
  
Bekenntnisfreiheit. 712 
Lotsgerichgordnung Karls V., so muß man diese 
rausamkeit vom verfeinerten Gesichtspunkt der 
heutigen Humanität aus zwar aufs tiefste be- 
klagen, hat aber kein Recht, das gesamte Straf- 
verfahren der Vorzeit als förmlichen Justizmord 
zu brandmarken. Waren die Strafformen auch 
abstoßend, so waren doch die Strafen selbst nicht 
ungerecht. Das christliche Mittelalter schloß also: 
Als bewußte Empörung wider Gott sind Apo- 
stasie und formelle Häresie schwerere Verbrechen 
als Mord und Ehebruch. Nun hat aber die welt- 
liche Obrigkeit nach Röm. 13, 11 ff das Recht, 
schwere Verbrecher eventuell mit dem Tod zu be- 
strafen: folglich hat sie das Recht, auch das Glau- 
bensverbrechen an Leib und Leben zu fühnen 
(ogl. S. Thom., Summa theol. 2, 2, q. 11, 
a. 3: Haeretici possunt non solum excom- 
municari, sed et iuste occidi). Wenn noch 
heute im Far West der Pferdedieb und in den 
beiden Staaten Carolina der Frauenschänder, ob 
Neger oder Weißer, an den Galgen kommt, so 
mag der Philanthrop sich über solche Strenge füg- 
lich empören, während der Jurist die Erklärung 
in den besondern Umständen des Landes und des 
Falles sucht. Er wird sogar bei der Beurteilung 
der amerikanischen Lynchjustiz, die im letzten Jahr- 
zehntschauerliche Negerverbrennungen und Galgen- 
säenen zeitigte, für mildernde Umstände plädieren, 
wenn er weiß, mit welchen Mängeln das Straf- 
prozeßverfahren in den Vereinigten Staaten be- 
haftet ist, dessen juristische Unvollkommenheit die 
brutalen Instinkte des wilden Pöbels geradezu 
herausfordert. Und alles dies gehört der Gegen- 
wart an. Gewiß sehnt niemand sich in ein Zeit- 
alter zurück, dessen sonst freiheitliche und in man- 
cher Beziehung bewundernswerte Staatseinrich- 
tungen durch finstere Strafordnungen stark ver- 
unziert waren. — Vgl. Hergenröther, Kath. Kirche 
undchristl. Staat (21874); P. Fredericq, Corpus 
documentorum inquisitionis haereticae pra- 
vitatis Neerlandicae (4 Bde, Gent 1889 bis 
1901); Lea, A History of the Inquisition in 
the Middle Ages (3 Bde, Neuyork 1888; deutsch 
von Wieck u. Rachel, 1905); dazu Histor. Jahrb. 
der Görresgesellschaft XI (1890) 302 ff. 
5) Viertens ist zu betonen, daß die barbari- 
schen Formen der mittelalterlichen Strafjustiz 
nicht die Kirche in Szene gesetzt hat, sondern der 
Staat. Nachdem derchristlich gewordene Römer- 
staat sich zum Glaubensstaat entwickelt hatte, war 
er logisch gezwungen, die in der Ketzerei liegende 
Auflehnung wider Gott auch als Hochverrat gegen 
den Staat anzusehen (Cod. Lustin. 1, 5 de haer.). 
Das Glaubensverbrechen mußte er zum Staats- 
verbrechen stempeln. So wurden denn die Be- 
griffe Katholik und Staatsbürger identisch. Kir- 
chenbann und Reichsacht gingen Hand in Hand. 
War der Hochverrat des Todes würdig, dann 
auch die bewußte und hartnäckige Ketzerei. Mit 
dem Wesen der Kirche und ihrer Verfassung hatte 
diese Strafe nichts zu schaffen. Jahrhundertelang
	        
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