Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

715 
Herzens aus lebendigem Leib bestraft wurde. Das 
harmlose Vergehen der Bettelei wurde durch das 
Bettelgesetz der Königin Elisabeth 1572 mit 
scharfer Peitschung, Durchbohrung des rechten 
Ohrs mittels glühenden Eisens und im Rück- 
fall mit dem Tod geahndet (vgl. G. Kassel, Ge- 
schichtliche Entwicklung des Delikts der Bettelei 
(1898) 37). Der Mordbube Ravaillac, der am 
14. Mai 1610 dem König Heinrich IV. von 
Frankreich den tödlichen Stahl in die Brust senkte, 
wurde grausam gefoltert, mit glühenden Zangen 
gezwickt, mit geschmolzenem Blei gepeinigt und 
von vier Pferden in Stücke zerrissen. Genau die 
gleiche empörende Strafe wurde noch im Jahr 
1757 am schwachsinnigen Attentäter Damiens, 
der den Lüstling Ludwig XV. nur mit dem Feder- 
messer geritzt hatte, bis aufs kleinste Detail vollstreckt 
(vgl. Pilatus, Der Jesuitismus [1905] 183ff). 
Erst als der Humanitätsgedanke in den Völkern 
Europas Wurzeln schlug, brachen bessere Zeiten 
an. Es war zugleich die Zeit, wo der weltlich 
gewordene Staat seine enge Verbindung mit der 
Kirche aufkündigte und die bürgerliche Strafbar= 
keit der Ketzerei sowie der meisten Verbrechen 
gegen Gott preisgab. Jetzt war auch die Kirche 
gezwungen, sich auf ihren alten Standpunkt zu- 
rückzuziehen, indem sie sich mit der Exkommuni- 
kation und andern Strafen (Irregularität, Un- 
fähigkeit zu kirchlichen Pfründen, Verweigerung 
des kirchlichen Begräbnisses) begnügte, an die der 
moderne Staat keine strafrechtlichen und bürger- 
lichen Wirkungen mehr knüpft. Hoffentlich wer- 
den Barbarei und Unkultur niemals mehr die 
Strafrechtspflege der Staaten schänden und die 
künftigen Geschlechter Sorge dafür tragen, daß 
philanthropische Gesinnung, Verfeinerung der 
Sitten, Vertiefung der Kultur die Wiederkehr 
gefühlsroher Strafordnungen unmöglich machen. 
— Vgl. noch G. Grupp, Kulturgesch, des Mittel- 
alters (2 Bde, 21907); v. Eicken, Gesch. und 
System der mittelalterl. Weltanschauung (1887); 
dazu v. Hertling im Histor. Jahrb. der Görres- 
gesellschaft K (1889) 128 ff; Lachaud, La civi- 
lisation ou les bienfaits del’Eglise (Par. 1890). 
2. Der Staat ist in Sachen der Bekenntnis- 
freiheit freier und ungehemmter als die an ihre 
Lebensgesetze gebundene Kirche, wenn schon auch 
er gewisse Schranken anerkennen muß. 
a) Indem das Staatslexikon der Görresgesell- 
schaft mit dem Prinzip voller Religionsfreiheit 
unnachsichtlich Ernst macht, stellt es sich einfach 
auf den Boden des modernen Rechtsstaates, 
wie er seit dem Ende des 18. Jahrh. in allmäh- 
licher Entwicklung sich historisch herausgebildet hat. 
Die deutschen Katholiken sagen sich mit vollem 
Bewußtsein vom Glaubensstaat des Mittelalters 
los, der neben manchen Lichtseiten doch auch 
schwere Schäden und unreparierbare Nachteile im 
Gefolge hatte. Im Art. Toleranz erfahren diese 
tiesschwarzen Schattenseiten eine eingehendere Be- 
leuchtung, und sie sind wahrlich düster genug, um 
Bekenntnisfreiheit. 
  
1 
716 
den Schluß zu rechtfertigen, daß der Glaubens- 
staat — auch der protestantische — nach den trau- 
rigen Erfahrungen der Geschichte dem christlichen 
Staatsideal ebensowenig entspricht als die radikale 
Theorie der Trennung von Staat und Kirche. 
Mit der Umwandlung des alten Glaubensstaates 
in den heutigen Rechtsstaat, mit der nicht mehr 
rückgängig zu machenden Verweltlichung der 
Staatsidee, mit der immer weiterschreitenden Ver- 
mischung der verschiedenen Religionsbekenntnisse 
in allen Ländern ist für Staatslenker und Politiker 
jeder Färbung das Prinzip der Religionsfreiheit 
zum Einmaleins aller staatsmännischen Weisheit 
und Gerechtigkeit geworden. Vom utopischen Boden 
des zertrümmerten Glaubensstaates aus in einem 
modernen Parlament Gesetzesvorschläge formu- 
lieren, die von neuem die Gewissen zu knechten 
versuchen würden, wäre der Gipfel politischer Tor- 
heit, ja das sichere Anzeichen beginnender Unzu- 
rechnungsfähigkeit. Mit scharfem Blick schreibt der 
Kirchenhistoriker E. Troeltsch (in Kultur der Gegen- 
wart I, 4119051], S. 391): „Die Grundidee der 
mittelalterlichen Kultur hatte Staat und Kirche zu 
den zwei einträchtig wirkenden Organen der christ- 
lichen Gesellschaft oder des Corpus christianum 
verschmolzen. Der Protestantismus beruhte auf 
dieser Idee um kein Haar weniger als der Katho- 
lizismus. . Die Säkularisation des Staates ist 
die wichtigste Tatsache der modernen Welt; denn 
sie hat diesem System ein Ende gemacht.“ Seit 
den letzten 50 Jahren vollends haben infolge der 
durch die Kolonialpolitikunaufhaltsam fortschreiten- 
den Völker= und Rassenmischung, des ausgedehnten 
Auswanderungswesens und des Reise-, Fremden- 
und Weltverkehrs, der intensiven Ausnutzung der 
Freizügigkeits= und Niederlassungsgesetze die kon- 
fessionellen Verhältnisse auf der Erde sich räumlich 
derart verschoben, daß das graphische Kolorit der 
Religionskarten den buntesten Farbenwechsel und 
eine vollständig neue Gestalt angenommen hat. 
Und diese Verschiebungen und Mischungen werden 
für die Zukunft voraussichtlich eher zu- als ab- 
  
nehmen. Schon aus diesem Grund allein treffen 
die Sätze 77/79 des Syllabus (s. d. Art.) 
heute nicht einmal für Spanien und die süd- 
amerikanischen Republiken, auf deren damalige 
kirchenpolitische Verhältnisse sie gemünzt waren, 
geschweige denn für das schon damals stark ge- 
mischte Deutschland zu. Rein katholische Staaten 
gibt es ebensowenig mehr als rein protestantische. 
Und wenn es solche noch gäbe, so hätte der katho- 
lische Fürst das Recht, seinen protestantischen Unter- 
tanen so sicher Bekenntnisfreiheit zu gewähren, 
wie umgekehrt der protestantische Fürst seinen 
katholischen Untergebenen. Weil die Voraus- 
setzungen zur Errichtung neuer Glaubensstaaten 
gegenwärtig ebenso fehlen, als sie auch in alle 
Zukunft fehlen werden, so erscheint schon auf dem 
Boden der harten Tatsachen die Religionsfreiheit 
als das einzig mögliche und deshalb einzig ver- 
nünftige Staatsprinzip. Hiermit soll selbstver-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.