Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Zum Ganzen vgl. v. Ketteler, Freiheit, Autorität 
und Kirche (1862); John S. Mackenzie, An In- 
troduction to social Philosophy (Glasgow 
1890); Emil de Laveleye, Le gouvernement 
dans la démocratie (2 Bde, Par. 1891); W. 
E. H. Lecky, Democracy and Liberty 1 (Lond. 
1896) 424 ff; v. Hertling, Recht, Staat u. Ge- 
sellschaft (1907). 
b) Die Staatsnotwendigkeit, welche die mo- 
dernen Freiheitsgesetze in Sachen der Religions= 
übung diktiert hat, stößt indes auf Schranken, 
welche das Naturrecht und das christliche Staats- 
recht auch dem Rechtsstaat ziehen müssen. Unser 
feierlicher Verzicht auf den alten Glaubensstaat 
entspringt nicht dem heimlichen Bedauern darüber, 
daß der Kirche ihre frühere Gewalt über den 
Staat aus den Händen entglitten sei, sondern 
wird getragen von der ehrlichen Uberzeugung, daß 
die Forderung der Religionsfreiheit unter den 
gegenwärtigen Zeitverhältnissen zu keinem Grund- 
gesetz des Katholizismus in Widerspruch steht. 
Als freie Königin hat sich die Kirche allzeit gegen 
die Zumutung gewehrt, als ob die Gewinnung 
neuer oder die Zurückführung abgefallener Mit- 
glieder in ihren Mutterschoß zu den inneren Auf- 
gaben des Staates gehöre. Hat doch Christus 
nicht den Staat, sondern die Kirche mit der Ver- 
kündigung des Evangeliums beauftragt. Nicht 
einmal der mittelalterliche Glaubensstaat suchte 
sich in der rollenwidrigen Stellung zu gefallen, 
entweder als Träger der übernatürlichen Offen- 
barung oder als Lehrer und Glaubensrichter der 
Heilswahrheiten sich aufzuspielen. Die innige 
Einheit von Staat und Kirche im Mittelalter war 
eine zeitgeschichtliche Erscheinung, die weder 
durch das Wesen des Staates noch das der Kirche 
bedingt war. Was aber das Weser beider for- 
dert, das ist der dreifache Vorbehalt, daß weder 
die Religionslosigkeit des Staates noch die zügel- 
lose Schrankenlosigkeit aller Kulte noch endlich die 
Trennung von Staat und Kirche zum Staats- 
prinzip erhoben werde. Die Berechtigung dieser 
Einschränkungen ist leicht darzutun. 
a) Wenn nicht bloß der Einzelmensch in seiner 
Isoliertheit, sondern auch die menschliche Gesell- 
schaft als Ganzes zum Bekenntnis an den per- 
sönlichen Gott und damit zur Gottesverehrung 
sittlich verpflichtet ist, so leuchtet ein, daß die 
Forderung der Religionslosigkeit des Staates 
auf den „Staat ohne Gott“ hinausliefe, der als 
unsittliches Monstrum aus Mangel an innerer 
Lebensfähigkeit dem Siechtum und Untergang 
geweiht wäre. Ein religions= und gottloser Staat 
kann sein Wesen nur aus dem Geist des Atheis- 
mus oder dem des Deismus schöpfen. Aber auch 
der Pantheismus ist außerstande, dieses Brand- 
mal von ihm hinwegzuwischen, da der Hegelsche 
Staatsgötze mit dem Anspruch, als „omnipotenter 
Staat“ die Urquelle alles Rechts zu sein, auf 
tönernen Füßen beruht (s. Syllab.PülX.prop.39). 
Die zum Staatsbestand unentbehrlichen Begriffe 
Bekenntnisfreiheit. 
  
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des Gehorsams und der sozialen Gerechtigkeit, 
der Heiligkeit des Eides im Gerichtswesen und 
unter der Fahne, der Sündhaftigkeit des Dieb- 
stahls und des Mords, des Aufruhrs und des 
Hochverrats, des Ehebruchs und der Unzucht usw. 
empfangen nur im Theismus Lebens= und Trieb- 
kraft. „Ohne die Gemeinschaft der Religion“, 
sagt v. Treitschke, „ist auch das Bewußtsein natio- 
naler Einheit nicht möglich, denn das religiöse 
Gefühl gehört zu den Grundkräften des Menschen“ 
(Politik 1I[1897) 326). In demselben Verhältnis, 
wie die Staatsgewalt die religiösen und sittlichen 
Mächte, die kräftig im Volkstum leben, schützt und 
stärkt, kräftigt sie die Wurzeln ihrer eigenen Exi- 
stenz. Umgekehrt würde ein Staat, welcher sich 
nicht selbst mit dem Gefühl der Religion durch- 
dränge, sondern der Untergrabung von Religion 
und Sittlichkeit teilnahmlos zusähe, seine eigene 
Grundlage zerstören und dem Umsturz in die 
Hände arbeilen. Das Prinzip der Religionsfrei-= 
heit bedeutet daher nicht Freiheit von Religion, 
sondern Freiheit für Religion. Wenn zwar manche 
Staatsrechtslehrer sich mit der rein natürlichen Re- 
ligion und Ethik als dem Minimum jeder Staats- 
religion begnügen, so sollen dennoch christliche 
Politiker einen Schritt weiter gehen und auch die 
christlichen Grundsätze im Staatsleben durch- 
führen, soweit es möglich ist. Das Deutsche Reich 
ist nach Ursprung und Grundrichtung bis jetzt 
ein christlicher Staatenbund geblieben, der über 
den Rahmen der Naturreligion und des Natur- 
staates hinaus — unbeschadet der religiösen Frei- 
heit der Juden und Dissidenten — unserem Hei- 
land Jesus Christus seine Hochachtung und Huldi- 
gung nicht versagen will. Unsere Staatsver- 
fassungen sind noch immer von christlichem Geist 
durchweht, unsere Kultur nach wie vor christlich 
gestimmt, so ungestüm auch widerchristliche Stürme 
gegen sie ankämpfen. Den Rückfall ins Heiden- 
tum muß jeder aufrichtige Freund des deutschen 
Vaterlandes mit allen erlaubten Mitteln zu ver- 
hindern suchen. — Vgl. H. Escher, Handbuch der 
praktischen Politik 1 (1863) 414 ff: Walter, 
Naturrecht und Politik (1863) § 272; Rauscher, 
Der Staat ohne Gott (1865); Kunstmann, 
Grundzüge des vergleichenden Kirchenrechts (1867) 
§§ 23 und 26; Dahlmann, Politik auf den 
Grund und das Maß der gegebenen Zustände 
zurückgeführt (21847). 
) Wie das Prinzip der Religionslosigkeit, 
so hat auch die Forderung einer schrankenlosen 
Religionsfreiheit in einem geordneten Staats- 
wesen keine Stelle. Auf dem Giftboden des Atheis- 
mus und Indifferentismus entsprungen, wider- 
spricht diese freidenkerische Maxime den klarsten 
Grundsätzen des Naturrechts und jeder vernünf- 
tigen Politik (s. Enzyflika Quanta cura Pius' IX. 
vom 8. Dez. 1864). Solange eine neue Religion 
Gottesfurcht, gute Gesinnung und Treue gegen 
den Staat predigt (vgl. preuß. Landrecht TI II, 
Tit. 11, § 13), mag der Staat sie in seinem
	        
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