Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Schoß so lange ertragen, als bis er nach Er- 
kenntnis ihrer Ungefährlichkeit ihr auch seinen 
Rechtsschutz und schließliche Anerkennung gewähren 
kann. Wo aber staatsgefährliche oder sittenver- 
derbliche Bestrebungen sich in den bequemen Deck- 
mantel der Religion und Frömmelei hüllen, da 
ist auch der Rechtsstaat schon im Interesse der 
Selbsterhaltung zum Einschreiten befugt und ver- 
pflichtet. Die Welt hat Molochdienst und Astarte= 
kult, anabaptistische Greuel und Weibergemein- 
schaft, rituellen Kindermord und Witwenverbren- 
nung (die sog. Suttees in Indien), Mormonentum 
und Unzuchtskonventikel gesehen, die sämtlich den 
Anspruch erhoben, „Religion“ zu sein. Aus jüngster 
Zeit haben wir, wie V. Cathrein aufzählt, „eine 
Jahvereligion, eine Herrenreligion, eine Religion 
der Ideale, eine Religion des Mitleids, eine 
Religion des Johannistriebs, eine Religion des 
Sonnenscheins, eine Religion der Wiedergeburt, 
eine Religion des Gottsuchers, eine Religion des 
Kogitantentums, eine Wodansreligion, ja sogar 
eine Goekhe= und Bismarckreligion und wie sie alle 
heißen, diese Ausgeburten einer ausschweifenden 
Phantasie“ (Die kath. Moral [1907] 482 H), 
denen wir noch die neueste Religion des „Deut- 
schen Monistenbundes“ hinzufügen können (val. 
J. Reinke, Haeckels Monismus und seine Freunde 
(1907). An den meisten dieser Erscheinungen 
wird der Staat achtlos vorübergehen, weil der 
morgige Tag schon verschlingt, was der gestrige 
ans Licht brachte. Allein wo eine mächtige anti- 
religiöse Bewegung einsetzt, welche die sittlichen 
Grundlagen der Gesellschaft systematisch unter- 
gräbt, da wird er mit ebenso kluger als fester 
Hand einen Damm aufzurichten wissen, der die 
verheerenden Schlammfluten von seinen eigenen 
Fundamenten ablenkt (s. preuß. Landr. TI II, Tit. 
11, §8 1/4; Bayr. Religionsedikt §2). Der freie 
Konkurrenzkampf mit der tröstlichen Perspektive auf 
den Sieg der Wahrheit über den Irrtum, wie er 
auch in den „Religionsparlamenten“ der Neuzeit 
durch Rede und Gegenrede auszufechten versucht 
wurde, verheißt für Staat und Kirche ebensowenig 
einen nachhaltigen Erfolg als der freie Wettkampf 
zwischen Tugend und Laster. Die Werbekraft der 
Tugend ist nicht stärker, eher schwächer als die 
mächtige Anziehungskraft der Sünde. Wozu böte 
auch der Staat trotz der innern Überlegenheit der 
Tugend Gefängnisse und Zuchthäuser, Straf- 
gesetze und Gendarmen, zuletzt das Schwert des 
Scharfrichters auf, wenn nicht aus dem Grunde, 
weil der Staat sich selbst und seine Untertanen 
schützen muß gegen die Machenschaften des Lasters 
und der Lüge? Dieser Staatspflicht zur ent- 
schlossenen Abwehr einer alle Grenzen durch- 
brechenden Bekenntnisfreiheit trägt der Toleranz- 
antrag der Zentrumsfraktion dadurch Rechnung, 
daß zunächst nur die staatlich anerkannten Reli- 
gionsgesellschaften ins Auge gefaßt sind, über 
deren religiöse Unbeanstandbarkeit der Staat schon 
längst sich ein Urteil gebildet hat. Daß an- 
Bekenntnisfreiheit. 
  
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dern Religionsgemeinschaften damit die Türe für 
immer verschlossen bleibe, ist hiermit nicht gesagt. 
Hier muß von Fall zu Fall entschieden werden. — 
Vgl. Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grund 
der Ethik (21868) § 172; Walter, Naturrecht 
und Politik §§ 491 497; Hergenröther, Kath. 
Kirche und christl. Staat (1872) 629 ff. 
) Eine dritte Grenze endlich liegt im Verbot, 
die Trennung von Staat und Kirche 
zum grundsätzlichen „Staatsideal“ zu erheben 
und darin die „beste Staatsform“ zu erblicken, 
wenn auch in bestimmten Fällen die völlige Schei- 
dung für beide Teile besser ausschlagen mag als 
die Fortsetzung einer haßerfüllten Ehe. Allein 
auch dieser „relativ bessere Zustand“ ist im Grunde 
nur das „kleinere Übel“, weil es Unnatur ist und 
bleibt, daß die höchste geistliche und weltliche Ge- 
walt zur Verwirklichung des Glückseligkeitsziels 
ihrer gemeinsamen Untertanen nicht harmonisch zu- 
sammenwirken (s. Enzyklika Quanta cura Pius'IX. 
vom 8. Dez. 1864; Syllab. prop. 55). Ob- 
schon Leo XIII. die nordamerikanischen Bischöfe 
wegen ihrer weisen Anpassung an die nationalen 
und staatsrechtlichen Verhältnisse der Vereinigten 
Staaten, in denen die schiedlich-friedliche Tren- 
nung kraft der Verfassung ehrlich durchgeführt ist, 
gelegentlich belobte (Breve ad episcop. Americ., 
April 1902), so hat er doch in seiner Enzyklika 
Immortale Dei vom 1. Nov. 1885 das ein- 
trächtige Zusammenwirken der beiden höchsten 
Gewalten als die ideale Staatsform gepriesen 
und zur Verständigung über Grenzfragen auf die 
Wohltat der Konkordate verwiesen. Zuletzt 
hat auch Papst Pius X. in würdiger und klarer 
Beweisführung in seiner Enzyklika Vehementer 
nos vom 11. Febr. 1906 das durch einseitigen 
Konkordatsbruch zustande gekommene französische 
Trennungsgesetz vom 9. Dez. 1905 verurteilt und 
dessen Unweisheit und Ungerechtigkeit in helles 
Licht gerückt. In der Glühhitze des preußischen 
Kulturkampfs trug der große Staatsmann Windt- 
horst sich ernstlich mit dem Gedanken, im Landtag 
den Antrag auf Trennung von Staat und Kirche 
selbst zu stelleu, um den vergifteten Zuständen der 
damaligen Lage ein Ende zu machen. Allein der 
trennende Schnitt, der im Staats= und Kirchen- 
körper gleich tiefe und schwer vernarbende Wunden 
zurückgelassen hätte, wäre immerhin nur ein Not- 
behelf gewesen. Beim Wiedereintritt ruhigerer 
Zeiten hätte vor allem der Staat sich gerne des 
weisen Ausspruchs von Trendelenburg erinnert 
(Naturrecht auf dem Grund der Ethik 396), „Der 
von der Kirche getrennte Staat ist verstümmelt 
und stirbt geistig ab.“ — Vgl. Montalembert, 
L'Eglise libre dans lEtat libre (Par. 1863); 
Liberatore, La Chiesa e lo Sato (Neapel 1871) 
131 ff; Ed. Zeller, Staat u. Kirche (1873) 57 ff; 
Maaßen, Neun Kapitel über freie Kirche u. 
Gewissensfreiheit (1876); Bas, Etude sur les 
rapports de I’Eglise et de IEtat et sur 
leur séparation (St--Quentin 1882); Schaff,
	        
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