Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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der weltlichen Ketzergesetze kann nur mit Strömen 
von Blut geschrieben werden. Auch der protestan- 
tische Glaubensstaat zeigte dieselbe Unduldsamkeit 
und Grausamkeit, wenn wir beispielsweise hören, 
wie England unter der Königin Elisabeth (1558 
bis 1603) und Schweden seit dem Reichstag von 
Upsala 1593 auf die Ausübung des katholischen 
Kultus die Todesstrafe setzten. Auf dem Boden 
der Reformation entstand auch das höchst verwerf- 
liche Staatsaxiom: Cuius regio, eius et religio, 
das die Gewissensknechtung und den Religions- 
zwang in schärfster und abstoßendster Form zur 
Geltung brachte. Eine Folge davon war, daß die 
Untertanen je nach der wechselnden Konfession 
ihres Fürsten auch ihren Glauben wechseln mußten 
wie einen Rock oder mit Hab und Gut aus dem 
fürstlichen Territorium auszuwandern gezwungen 
wurden. Sogar der Westfälische Friede 1648 er- 
laubte noch die Landesvertreibung auch der drei 
staatlich anerkannten Religionsparteien (Katho- 
liken, Lutheraner, Reformierte), wenn sie nicht 
durch den Besitzstand des sog. Normaljahrs (1624) 
gesetzlich gesichert waren. Die den Hugenotten in 
Frankreich durch das Edikt von Nantes 1598 ge- 
währte Kultusfreiheit wurde ihnen durch die ge- 
wissenlose Wiederaufhebung des Edikts 1685 von 
Ludwig XIV. widerrechtlich entrissen, und ganze 
Scharen überzeugungstreuer Protestanten sah man 
aus Frankreich auswandern. Macaulay meinte mit 
Recht, daß der Widerruf des Edikts von Nantes 
die Emanzipation der Katholiken um ein Jahr- 
hundert hinausschob. Dies waren höchst traurige 
und gänzlich unhaltbare Zustände. Es liegt eine 
weltgeschichtliche Tragik in der Tatsache, daß erst 
die großen Revolutionen der Welt wertvolle Frei- 
heitsrechte brachten, die ohne sie den Fürsten nie- 
mals abgerungen worden wären. So war es bei 
der französischen Revolution 1789, so wieder im 
Aufständejahr 1848. Beide bezeichnen einen wich- 
tigen Markstein in der Religionsgeschichte Euro- 
pas; denn der französische Revolutionsgeist schuf 
den Rechtsgrundsatz völliger Religionsfreiheit, das 
Jahr 1848 brachte ihn zur Vollendung und Durch- 
führung. Zuerst von der Verfassung der Ver- 
einigten Staaten 1787 in vollem Umfang ad- 
optiert, wurde derselbe vom französischen Revo- 
lutionsstaat 1791 aus purer Frreligiosität als un- 
beschränkte Kultusfreiheit zum Prinzip erhoben. 
Die Rheinbundsakte des Jahres 1806 sicherte 
vorerst nur den drei großen Religionsparteien der 
Katholiken, Lutheraner und Reformierten Gleich- 
heit der bürgerlichen und politischen Rechte zu, 
eine Beschränkung, die das norddeutsche Bundes- 
gesetz vom 3. Juli 1869 aufhob. Unter napoleo- 
nischem Einfluß verlor Deutschland seit 1815 sei- 
nen konfessionellen Charakter, und die deutschen 
Einzelstaaten beeilten sich, das Prinzip vollkom- 
mener Gewissensfreiheit in ihren Verfassungen zur 
Geltung zu bringen (vgl. bayr. Verfassungsurkunde 
Tit. 4, § 9; bad. Verf. 1818 § 18; württemb. 
Verf. 1819 § 27; Großherzogtum Hessensche 
Bekenntnisfreiheit. 
  
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Verf. 1820 §5 22; sächs. Verf. 1831 § 32). 
Seit 1848 näherten sich die europäischen Ver- 
fassungen dem Muster des nordamerikanischen 
Freistaats (vogl. preuß. Verf. 1850 8 12; franz. 
Verf. 1848 § 7; holländ. Verf. 8§ 164; belg. 
Verf. § 14). 
So hat sich in der Neuzeit allmählich der inter- 
konfessionelle, noch immer christlich gesinnte sog. 
paritätische Rechtsstaat herausgebildet, 
welcher über allen Konfessionen steht und allen 
Religionsgesellschaften, soweit sie gesetzlich aner- 
kannt sind, die gleiche Glaubens= und Kultus- 
freiheit verfassungsmäßig gewährleistet. An diesem 
verfassungsmäßigen Zustand muß heute festgehal- 
ten, an seinem freiheitlichen Ausbau unter voller 
Wahrung der naturrechtlichen Grenzen und des 
christlichen Sittengesetzes weitergearbeitet werden. 
Auch die katholische Kirche erkennt die Unantast- 
barkeit beschworener Verfassungen, die Heiligkeit 
des Verfassungseides, die Unverletzlichkeit der Re- 
ligionsverträge, die Gültigkeit überkommener Ge- 
wohnheitsgesetze rückhaltlos an; denn das christ- 
liche Moralgesetz, dessen gottbestellte Hüterin sie 
ist, schreibt Treue gegen die beschworenen Ver- 
träge und Staatsverfassungen als strenge Ge- 
wissenspflicht vor. Treubruch, Vertragsbruch, 
Verfassungsbruch, Eidbruch ist eine schwere Sünde 
und „entehrt den Menschen, bringt ihn in Wider- 
spruch mit Gott, der ein Gott der Treue ist, und 
zerstört das gegenseitige Vertrauen" (A. Koch, Lehr- 
buch der Moral?1907)471#). Der Zug und das 
Bedürfnis der Zeit drängt den Staat nicht nur 
zur Gewährung der einfachen Kultusfreiheit, son- 
dern auch zum Prinzip der vollen Gleichberech- 
tigung aller Konfessionen oder der Parität, 
deren Handhabung nach dem Gesetz strenger Ge- 
rechtigkeit zu den wichtigsten, aber auch schwierig- 
sten Obliegenheiten der Staatslenker gehört. „Die 
Parität“, sagt treffend Walter, „begreift das gleiche 
Recht der freiesten öffentlichen Religionsübung mit 
allen dem Kultus und seinen Dienern zukommen- 
den Rücksichten, die gleiche Anerkennung jeder 
Kirche als einer mit Eigentumsrechten begabten 
Korporation, die gleiche Fähigkeit ihrer Mitglieder 
zu den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten, 
wie die Bekleidung der öffentlichen Amter, und 
den gleichen Schutz der Staatsgewalt, die gleiche 
Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Interessen 
in den Schulen und andern öffentlichen Anstalten“ 
(Naturrecht und Politik (18631 § 491). Nach 
diesen Grundsätzen unparteiisch im Staatswesen zu 
verfahren, erfordert vom Staatsmann ein unge- 
wöhnliches Maß perfönlicher Vorurteilslosigkeit 
und Selbstzucht, die nur durch einen unbeugsamen 
Rechts= und Gerechtigkeitssinn in Gang gehalten 
werden kann, wozu ein ebenso hohes Maß von 
Vorsicht und Zurückhaltung kommen muß, um 
nicht den Verdacht bureaukratischer Einmischung 
in die inneren Angelegenheiten einer Konfession 
zu erwecken. Ideale Zustände zu schaffen, die jeden 
befriedigen, ist unmöglich. Aber gerechten Pari- 
 
	        
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