Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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gens nur eine Schlußfolgerung aus der Über- 
tragungstheorie. 
IV. In neuerer Zeit noch ist die Meinung ausge- 
sprochen worden, auch ganz abgesehen von der Über- 
tragungstheorie lasse sich das Recht des Volkes 
begründen, dem Souverän in gewissen äußersten 
Fällen mit bewaffneter Hand zu widerstehen und 
ihn abzusetzen. Der Fürst, sagt man, welcher in 
ruchlosester Weise das Volk so bedrückt, daß der 
Staat seinen Zweck des Gemeinwohls nicht mehr 
erreichen kann, macht sich dadurch zu einem un- 
gerechten Angreifer der ganzen Gesellschaft. Wenn 
nun jeder Privatmann das Recht des Widerstands 
gegen einen augenblicklichen ungerechten Angriff 
hat, warum sollte man nicht der ganzen Gesell- 
schaft das gleiche Recht der Notwehr gegen einen 
ihren Bestand gefährdenden Angreifer zusprechen 
dürfen? Hat aber die Gesellschaft dieses Recht der 
Notwehr, so darf sie auch im Fall der äußersten 
Not vom passiven Widerstand zum aktiven über- 
gehen, und wenn kein anderes Mittel zur Selbst- 
erhaltung mehr vorhanden ist, den Fürsten ab- 
setzen. Denn in einem solchen Fall kollidiert das 
Recht des Fürsten auf den Besitz der öffentlichen, 
ihrem Wesen nach auf das Gemeinwohl hinzielen- 
den Gewalt mit dem Recht der Gesamtheit auf 
Absetzung. 
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(Bundesverf. II 4) tatsächlich zutrifft, ohne daß 
man deshalb von einer Absetzung des Staats- 
oberhauptes zu sprechen berechtigt ist, eben weil 
der Präsident nicht die Stelle des Souveräns, 
sondern bloß diejenige des ersten Staatsbeamten 
einnimmt. 
3. Auch das kann von vornherein nicht in 
Frage kommen, ob ein einzelner Privatmann in 
eigenem Namen den Souverän unter dem Vor- 
wand des öffentlichen Wohles zur Rechenschaft 
ziehen, strafen und verletzen dürfe. Denn dies 
wäre ein frevelhaftes Attentat, das in keinem Fall 
gebilligt werden kann. Was würde aus der öffent- 
lichen Ordnung und Sicherheit werden, wenn es 
Privaten gestattet wäre, sich in dieser Weise gegen 
wahre oder vermeintliche Tyrannei zu erheben? 
Davon verschieden ist natürlich die Frage, ob 
einem Privatmann das Recht der augenblicklichen 
Notwehr im Fall eines formell und offenbar 
ungerechten Angriffs auf sein Leben auch dem 
Staatsoberhaupt gegenüber zukomme, mit andern 
Worten: ob ein Privatmann, der außerhalb aller 
gerichtlichen Formen und ohne seine Schuld von 
dem Fürsten meuchlerisch überfallen wird, sich 
zur Wehr setzen und sein Leben mit Gewalt ver- 
teidigen dürfe. Diese Frage kommt hier nicht zur 
die Erreichung ihres Ziels (des Gemeinwohls), Sprach 
und in dieser Kollision überwiegt das Recht der 
Gesamtheit als das höhere und wichtigere. 
V. Entgegen dieser Ansicht ebenso wie den oben 
(Nr II u. III) angeführten Lehren ist mit dem 
Verfasser der Schrift De regimine principum 
(I. 1, c. 6), als den man meist den hl. Thomas 
von Aquin ansieht, mit dem hl. Alfons von Liguori 
(Homo apostolicus tract. 8, n. 13) und allen 
neueren katholischen Rechtslehrern an dem Satze 
festzuhalten: Die gewaltsame Erhebung eines 
Volkes gegen seinen rechtmäßigen Fürsten zum 
Zweck der Absetzung desselben ist unerlaubt. — 
Bevor wir den Beweis für diese Behauptung an- 
treten, müssen wir einige erläuternde Bemerkungen 
vorausschicken: 
1. Es handelt sich in unserer Frage um die Ab- 
setzung eines rechtmäßigen Fürsten. Denn wenn 
ein Usurpator in offenbar ungerechter Weise den 
legitimen Herrscher seiner Gewalt beraubt, so ha- 
ben die Untertanen das Recht, dem letzteren mit 
Gewalt in der Wiedereroberung seines Thrones 
beizustehen, wofern gegründete Aussicht auf Er- 
folg vorhanden ist. Eine solche Vertreibung des 
Eindringlings im Dienst des rechtmäßigen Für- 
sten hat mit einer Auflehnung oder Rebellion nichts 
gemein. 
2. Wir reden hier bloß von der Absetzung des 
Trägers der obersten Staatsgewalt, der also im 
wahren Sinn Staatsoberhaupt oder Souverän 
ist, nicht von der Absetzung des obersten Staats- 
beamten. Daher kann in einer Republik der 
Präsident unter bestimmten Bedingungen abset- 
bar sein, wie dies z. B. in Bezug auf den Präsi- 
denten der Vereinigten Staaten von Amerika 
  
rache. 
4. Es fragt sich also bloß, ob das Volk als 
Gesamtheit im Fall einer offenkundigen, gemein- 
schädlichen und unverbesserlichen Tyrannei zum 
Zweck der Notwehr den Fürsten mit Gewalt ab- 
zusetzen und die Krone einem andern zu übertragen 
berechtigt sei. Durch diese Umgrenzung der Frage 
wird klar, daß von einer Absetzung des Fürsten 
zum Zweck der Bestrafung desselben nicht die Rede 
sein kann. Denn ein solches Vorgehen läßt sich 
nicht unter dem Titel berechtigter Notwehr ver- 
teidigen. Nur derjenige kann zur Verantwortung 
gezogen und gestraft werden, der einem höheren 
Oberen untersteht, also nicht souverän ist. Aus 
dem Gesagten ergibt sich, daß die Unabsetzbarkeit 
des Monarchen und dessen Unverantwortlichkeit 
sich begrifflich nicht decken, obwohl sie innig zu- 
sammenhängen. Jeder, der in dem Fürsten den 
Träger der höchsten Staatsgewalt und einen 
wahren Souverän erblickt, muß zugeben, daß 
derselbe nicht von einer andern, höheren Gewalt 
zur Verantwortung gezogen werden kann, daß er 
also seinem Volk gegenüber unverantwortlich ist. 
Aber auch wer diese Unverantwortlichkeit zugibt, 
läßt damit die Frage noch offen, ob das Volk als 
Mittel der Notwehr in gewissen Fällen zur Ab- 
setzung des Monarchen schreiten dürfe. Wenn 
daher Bluntschli (Die Lehre vom modernen Staat 
II 18761 208) behauptet: „Sie (die Unverant- 
wortlichkeit) ist keine absolute, denn die offenbare 
Tyrannei berechtigt zum Widerstand, und in der 
Revolution liegt auch ein Gericht der Volks- 
geschichte", so verwechselt er zwei wohl zu unter- 
scheidende Begriffe. Zur Verantwortung ziehen 
kann nur ein Vorgesetzter, zum Recht der Selbst-
	        
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