55
gens nur eine Schlußfolgerung aus der Über-
tragungstheorie.
IV. In neuerer Zeit noch ist die Meinung ausge-
sprochen worden, auch ganz abgesehen von der Über-
tragungstheorie lasse sich das Recht des Volkes
begründen, dem Souverän in gewissen äußersten
Fällen mit bewaffneter Hand zu widerstehen und
ihn abzusetzen. Der Fürst, sagt man, welcher in
ruchlosester Weise das Volk so bedrückt, daß der
Staat seinen Zweck des Gemeinwohls nicht mehr
erreichen kann, macht sich dadurch zu einem un-
gerechten Angreifer der ganzen Gesellschaft. Wenn
nun jeder Privatmann das Recht des Widerstands
gegen einen augenblicklichen ungerechten Angriff
hat, warum sollte man nicht der ganzen Gesell-
schaft das gleiche Recht der Notwehr gegen einen
ihren Bestand gefährdenden Angreifer zusprechen
dürfen? Hat aber die Gesellschaft dieses Recht der
Notwehr, so darf sie auch im Fall der äußersten
Not vom passiven Widerstand zum aktiven über-
gehen, und wenn kein anderes Mittel zur Selbst-
erhaltung mehr vorhanden ist, den Fürsten ab-
setzen. Denn in einem solchen Fall kollidiert das
Recht des Fürsten auf den Besitz der öffentlichen,
ihrem Wesen nach auf das Gemeinwohl hinzielen-
den Gewalt mit dem Recht der Gesamtheit auf
Absetzung.
56
(Bundesverf. II 4) tatsächlich zutrifft, ohne daß
man deshalb von einer Absetzung des Staats-
oberhauptes zu sprechen berechtigt ist, eben weil
der Präsident nicht die Stelle des Souveräns,
sondern bloß diejenige des ersten Staatsbeamten
einnimmt.
3. Auch das kann von vornherein nicht in
Frage kommen, ob ein einzelner Privatmann in
eigenem Namen den Souverän unter dem Vor-
wand des öffentlichen Wohles zur Rechenschaft
ziehen, strafen und verletzen dürfe. Denn dies
wäre ein frevelhaftes Attentat, das in keinem Fall
gebilligt werden kann. Was würde aus der öffent-
lichen Ordnung und Sicherheit werden, wenn es
Privaten gestattet wäre, sich in dieser Weise gegen
wahre oder vermeintliche Tyrannei zu erheben?
Davon verschieden ist natürlich die Frage, ob
einem Privatmann das Recht der augenblicklichen
Notwehr im Fall eines formell und offenbar
ungerechten Angriffs auf sein Leben auch dem
Staatsoberhaupt gegenüber zukomme, mit andern
Worten: ob ein Privatmann, der außerhalb aller
gerichtlichen Formen und ohne seine Schuld von
dem Fürsten meuchlerisch überfallen wird, sich
zur Wehr setzen und sein Leben mit Gewalt ver-
teidigen dürfe. Diese Frage kommt hier nicht zur
die Erreichung ihres Ziels (des Gemeinwohls), Sprach
und in dieser Kollision überwiegt das Recht der
Gesamtheit als das höhere und wichtigere.
V. Entgegen dieser Ansicht ebenso wie den oben
(Nr II u. III) angeführten Lehren ist mit dem
Verfasser der Schrift De regimine principum
(I. 1, c. 6), als den man meist den hl. Thomas
von Aquin ansieht, mit dem hl. Alfons von Liguori
(Homo apostolicus tract. 8, n. 13) und allen
neueren katholischen Rechtslehrern an dem Satze
festzuhalten: Die gewaltsame Erhebung eines
Volkes gegen seinen rechtmäßigen Fürsten zum
Zweck der Absetzung desselben ist unerlaubt. —
Bevor wir den Beweis für diese Behauptung an-
treten, müssen wir einige erläuternde Bemerkungen
vorausschicken:
1. Es handelt sich in unserer Frage um die Ab-
setzung eines rechtmäßigen Fürsten. Denn wenn
ein Usurpator in offenbar ungerechter Weise den
legitimen Herrscher seiner Gewalt beraubt, so ha-
ben die Untertanen das Recht, dem letzteren mit
Gewalt in der Wiedereroberung seines Thrones
beizustehen, wofern gegründete Aussicht auf Er-
folg vorhanden ist. Eine solche Vertreibung des
Eindringlings im Dienst des rechtmäßigen Für-
sten hat mit einer Auflehnung oder Rebellion nichts
gemein.
2. Wir reden hier bloß von der Absetzung des
Trägers der obersten Staatsgewalt, der also im
wahren Sinn Staatsoberhaupt oder Souverän
ist, nicht von der Absetzung des obersten Staats-
beamten. Daher kann in einer Republik der
Präsident unter bestimmten Bedingungen abset-
bar sein, wie dies z. B. in Bezug auf den Präsi-
denten der Vereinigten Staaten von Amerika
rache.
4. Es fragt sich also bloß, ob das Volk als
Gesamtheit im Fall einer offenkundigen, gemein-
schädlichen und unverbesserlichen Tyrannei zum
Zweck der Notwehr den Fürsten mit Gewalt ab-
zusetzen und die Krone einem andern zu übertragen
berechtigt sei. Durch diese Umgrenzung der Frage
wird klar, daß von einer Absetzung des Fürsten
zum Zweck der Bestrafung desselben nicht die Rede
sein kann. Denn ein solches Vorgehen läßt sich
nicht unter dem Titel berechtigter Notwehr ver-
teidigen. Nur derjenige kann zur Verantwortung
gezogen und gestraft werden, der einem höheren
Oberen untersteht, also nicht souverän ist. Aus
dem Gesagten ergibt sich, daß die Unabsetzbarkeit
des Monarchen und dessen Unverantwortlichkeit
sich begrifflich nicht decken, obwohl sie innig zu-
sammenhängen. Jeder, der in dem Fürsten den
Träger der höchsten Staatsgewalt und einen
wahren Souverän erblickt, muß zugeben, daß
derselbe nicht von einer andern, höheren Gewalt
zur Verantwortung gezogen werden kann, daß er
also seinem Volk gegenüber unverantwortlich ist.
Aber auch wer diese Unverantwortlichkeit zugibt,
läßt damit die Frage noch offen, ob das Volk als
Mittel der Notwehr in gewissen Fällen zur Ab-
setzung des Monarchen schreiten dürfe. Wenn
daher Bluntschli (Die Lehre vom modernen Staat
II 18761 208) behauptet: „Sie (die Unverant-
wortlichkeit) ist keine absolute, denn die offenbare
Tyrannei berechtigt zum Widerstand, und in der
Revolution liegt auch ein Gericht der Volks-
geschichte", so verwechselt er zwei wohl zu unter-
scheidende Begriffe. Zur Verantwortung ziehen
kann nur ein Vorgesetzter, zum Recht der Selbst-