Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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finden gesucht zur Schlichtung des Gegensatzes 
zwischen dem an Zahl überlegenen, aber an Einfluß 
doch vor den Wallonen zurückstehenden vlaemischen 
Element und den französisch sprechenden Belgiern 
durch das Gesetz Coremans über den Gebrauch des 
Vlaemischen vor Gericht. Eine Ergänzung dieses 
Gesetzes steuerte 1907 den noch immer vorhandenen 
Mißständen auf diesem Gebiet. Das Regierungs- 
jubiläum des Königs Leopold II. im Jan. 1890 
wurde von der Kammer begangen durch die Be- 
willigung von 2 Mill. als Versicherungsfonds für 
bei der Arbeit verunglückte Arbeiter. In diese Zeit 
fällt auch die nachdrücklichere Bekämpfung der 
Sklaverei von dem Brüsseler Antisklavereikongreß 
aus, dessen Zwecken der mit Belgien durch Personal- 
union verbundene Kongostaat wegen seiner Lage 
und seines Umfangs in ganz besonderer Weise 
dienlich sein konnte und kann. Aus diesem Grund 
wurde der Kongostaat ermächtigt, Einfuhrzölle zu 
erheben, um besser zur Bekämpfung der Sklaverei 
instand gesetzt zu sein. Belgien unterstützte seiner- 
seits den Kongostaat, der sich zu einem Finanz- 
unternehmen des Königs Leopold, seines Sou- 
veräns, entwickelt hat, im Jahr 1890 mit einer 
zinsfreien Anleihe von 25 Mill. Francs, wofür es 
das Recht späterer Ubernahme des Kongostaats 
erworben zu haben glaubte. König Leopold II., 
zugleich Souverän des Kongostaats, erklärte auch, 
daß dieser Belgien zufallen solle. In dieser Er- 
wartung wurden von Belgien auch die umfang- 
reichen Mittel zur Erbauung der Kongobahn zur 
Verfügung gestellt. 1895 veranlaßten dann die 
innern Verhältnisse des Kongostaats (Krieg gegen 
die Araber und Aufstände der eingebornen Sol- 
daten) den König, durch die belgische Regierung 
der Kammer die Übernahme des Kongostaats für 
Belgien vorzuschlagen. Dieser Vorschlag fand bei 
der Kammermehrheit eine zurückhaltende Auf- 
nahme, auf der Linken lebhaften Widerstand, so 
daß das Kabinett ihn wieder zurückzog. Es mußte 
aber den Bedürfnissen des Kongostaats abgeholfen 
werden. Dies geschah auf eine Weise, die einmal 
den scharfen Einspruch Englands hervorrief, dann 
auch zu den größten Schwierigkeiten führte, welche 
1907 und 1908 der erneut in Frage gekommenen 
Übernahme des Kongostaats durch Belgien sich 
entgegentürmten und unter dem Druck der kongo- 
feindlichen Agitation in Belgien sowohl die Lage 
des Ministeriums Schollaert als die der katholi- 
schen Mehrhrheit bei den Ergänzungswahlen zur 
Kammer und zu den Provinzialräten 1908 kritisch 
gestalteten. In der Kammer wurde die an sich 
kleine Mehrheit noch um ein geringes geschwächt, 
während bei den Provinzialwahlen der bisherige 
Gesamtstand gewahrt blieb. Die nichtbewirtschaf- 
teten Teile des Kongostaats wurden als Eigentum 
des Kongostaats erklärt, der sich auch das Monopol 
der Bodenerzeugnisse zusprach und auf die Ein- 
gebornen durch Zwangseintreibung von Kautschuk 
unter dem Titel der Steuerzahlung vielfach einen 
grausamen Druck ausübte. Dies und die Beschrän- 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
Belgien. 
  
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kung der freien Unternehmungen setzte die Kongo- 
regierung den heftigsten Angriffen von englischer 
Seite aus, bei denen allerdings auch gewisse weiter- 
gesteckte politische Ziele im Hintergrund waren. 
Riesige Konzessionen an einzelne Unternehmergesell- 
schaften sowie die Schaffung der ungeheuren könig- 
lichen Domänen waren dann Handlungen des Sou- 
veräns, über welche die belgische Volksvertretung 
vor der Übernahme des Kongostaats eingehende 
Aufklärung verlangte, um gegebenenfalls eine 
Anderung der Bedingungen herbeizuführen; vor 
allem stieß die vom Souverän verlangte Unab- 
hängigkeit und Unantastbarkeit der Krondomäne 
auf Widerspruch in der öffentlichen Meinung und 
in der Volksvertretung. Die Linke war geschlossen 
dagegen, die Rechte spaltete sich in eine kleinere 
gegnerische Gruppe und eine größere zustimmende 
Gruppe, die sich aber schließlich ebenfalls auf den 
Standpunkt stellte, daß der Souverän Belgien 
nicht einseitig die Bedingungen der Übernahme 
oktroyieren könne. 
Die Neuwahlen des Jahrs 1890 brachten der 
Regierung eine noch größere Mehrheit. Die Ver- 
fassungsrevision hinsichtlich der Bestimmungen über 
das Wahlrecht war wegen der starken Mehrheit 
ganz in die Hand der Katholiken gegeben, unter 
denen sich übrigens zwei mehr und mehr diver- 
gierende Strömungen bildeten, die der Konser- 
vativen und die der christlichen Demokraten, zwi- 
chen denen Beerngert eine vermittelnde Stellung 
im Interesse der Einigkeit einnahm. Später ver- 
schob sich dieses Verhältnis unter der Einwirkung 
der persönlichen Politik des Königs in Militär- 
fragen und in der Kongosache dahin, daß Beer- 
naert der Führer der bis dahin als demokratisch 
bezeichneten Gruppe der „jungen Rechten“ wurde, 
während Woeste die andere größere Gruppe führte. 
Mehrere Jahre wurde ohne Ergebnis über eine 
Reihe von Vorschlägen zur Abänderung des Wahl- 
rechts beraten — die Radikalen verlangten das 
allgemeine, gleiche Wahlrecht mit 21 Jahren und 
ließen in den größeren Städten ihre Anhänger 
hierfür Straßenkundgebungen veranstalten —, 
bis 1892 die Regierung selbst mit einer neuen 
Wahlrechtsvorlage erschien, die nicht nur die Wäh- 
lerzahlvermehrte, sondern auch das Volksreferendum 
enthielt. Endgültig über die Verfassungsänderung 
beschließen konnte jedoch nur eine neue, eben auf 
die Revision hin gewählte Kammer. Es wurden 
also Neuwahlen angesetzt, und diese führten für die 
Katholiken die Einbuße der Zweidrittelmehrheit 
herbei. Zwischen den Katholiken und den gemäßigten 
Liberalen kam aber gegen die Radikalen ein Kom- 
promiß zustande, wonach künftig nach gemischtem 
System unter Beibehaltung des Zensus (minde- 
stens 10 Francs) zu wählen sein sollte, indem be- 
sondere Fähigkeiten und eigener Hausstand eine 
Bevorzugung gewährten. Schließlich konnte sich 
aber die Kammer auf keine Anderung einigen, 
was die Radikalen und Sozialisten in Brüssel zu 
erheblichen Straßenunruhen veranlaßte. 1894 kam 
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