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vom 23. Sept. 1842, welches die Verbindlich-
keit der Gemeinden zur Errichtung von Elementar-
schulen in den Orten aussprach, wo nicht durch
freie Schulen hinlänglich für den Unterricht ge-
sorgt war, erkannte zwar dem Klerus noch eine
offizielle Tätigkeit in allen aus öffentlichen
Geldern gegründeten Elementarschulen zu, unter-
warf ihn aber zugleich dem Inspektionsrecht des
Staates in allen den freien Elementarschulen, die
nur irgend eine Geldunterstützung von der Ge-
meinde, der Provinz oder dem Staat erhielten.
Auf diese Weise blieb die Freiheit des Unterrichts
äußerlich noch gewahrt; tatsächlich verkümmerte
sie aber mehr und mehr. So wurde 1850 die
Frage wegen der Organisation des mittleren
Unterrichts dahin erledigt, daß 10 Athenäen
königlich werden, einige kommunale Mittelschulen
Staatsunterstützung erhalten und 12 neue staat-
liche Bürgerschulen gegründet werden sollten; nur
noch 40 Mittelschulen blieben unter Leitung der
Geistlichkeit. Den letzten Schritt zur Entchrist-
lichung oder, wie das Losungswort lautete, zur
„Neutralität“ der Schule tat das liberale Mini-
sterium von 1878. Es schuf ein besonderes De-
partement für den Unterricht mit einem eigenen
Unterrichtsminister, und das Gelt vom 10. Juli
1879 sollte den Einfluß des Klerus auf die
Schulen vollends beseitigen. Es erneuerte und
verschärfte die Verordnungen über die Staats-
aufsicht und bestimmte, daß der Unterricht für
Unbemittelte kostenfrei und der Religionsunterricht
in den Elementarschulen des Staates nicht mehr
obligatorisch sein, der Geistlichkeit dagegen das
Recht zustehen solle, denselben außerhalb der
regelmäßigen Schulstunden im Schulgebäude zu
erteilen. Außerdem mußte jede Gemeinde eine
unter Aufsicht des Staates stehende Schule unter-
halten, und alle von Geistlichen geleiteten, bisher
staatlich anerkannten Schulen wurden aufgehoben.
Auch an die Reform der Mittelschulen ging
Freère-Orban, und durch Gesetz vom 15. Juni
1881 wurde die Zahl der vom Staat unter-
haltenen Athenäen und Mittelschulen in erheblicher
Weise vermehrt sowie die Errichtung von 50 kon-
fessionslosen Töchterschulen beschlossen. — Da
man aus dem Lehrplan der Normal= und höheren
staatlichen Schulen den Religionsunterricht schon
längst gestrichen hatte, so war jetzt das Ziel der
Loge, die religionslose Schule, erreicht in einem
Land, wo die Nichtkatholiken kaum ein Prozent
der Bevölkerung ausmachen. Natürlich begann von
seiten der Katholiken die schärfste Opposition
gegen diese Neuerungen, aber erst das katholische
Ministerium vom 16. Juni 1884 machte dem
liberalen Schulregiment ein Ende: das Unter-
richtsministerium wurde sofort aufgehoben, mit
dem des Innern verschmolzen und durch Gesetz
vom 20. Sept. 1884 die Freiheit des Unter-
richts wiederhergestellt. Der Staat läßt den
Gemeinden die Wahl, ob sie auf ihre eigenen
Kosten Gemeindeschulen halten oder ihre Kinder
Belgien.
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in die bestehenden Privatschulen der Schulbrüder
und Schulschwestern schicken wollen; letzteres darf
nicht geschehen, wenn 20 Familien mit schulpflich-
tigen Kindern dagegen Einspruch erheben. Die
öffentlichen Lehrer (Gesetz vom 10. Juli 1879)
können von den Gemeinden abgesetzt werden und
erhalten 1000 Francs Wartegeld. Der Staats-
zuschuß wird in gleicher Weise den freien wie den
Gemeindeschulen zugewendet. Der Religions-
unterricht in der öffentlichen Schule ist der kirch-
lichen Aufsicht unterstellt und für alle Schüler
pflichtmäßig, solange die Eltern nicht das Gegen-
teil beantragen.
Die oberste Aufsicht über den Volksschul-
unterricht führt ein aus 14 Mitgliedern ge-
bildeter Volksbildungsrat, dem wieder 18 Haupt-
und 80 Bezirksschulinspektoren unterstellt find.
Dasschulpflichtige Alter reicht vom 6. bis 13. Jahr.
1905 bestanden 7144 Elementarschulen mit
869 811 Schülern und 4077 Fortbildungsschulen
(Scoles Tadultes) mit 201.061 Schülern. Für
Ausbildung der Elementarlehrer sorgen 4 höhere
und 54 Elementarlehrerseminare mit zusammen
(1905) 2241 männlichen und 2693 weiblichen
Zöglingen. — Das höhere Unterrichtswesen
steht unter einem Bildungsrat von 8 bis 10
Mitgliedern, einem Generalinspektor und drei
Fachinspektoren, welche sämtlich in Brüssel ihren
Sitz haben. Die Lehranstalten für den mitt-
leren Unterricht werden gesetzlich geschieden
in „Athenäen“, königliche Institute, in „Kol-
legien“, welche vom Staat oder unter dessen Sub-
vention von Gemeinden oder vom Klerus oder
von Privaten unterhalten werden, und in „Mittel-
schulen“ für den niedern Sekundärunterricht.
Das Athenäum zerfällt in 2 Sektionen, 1 huma-
nistische und 1 gewerbliche, jede mit 5jährigem
Kursus, wozu noch 2 gemeinsame Vorbereitungs-
klassen kommen. Die Kollegien sind in gleicher
Weise organisiert. — Von den 4 Univer-
sitäten Belgiens sind die beiden Staatsuniver-
sitäten in Gent und Lüttich 1816 gestiftet, die
beiden freien 1834 gegründet, und zwar jene zu
Löwen (université catholique) von der Geistlich-
keit, jene zu Brüssel (université libre de Bel-
gique) durch Assoziation. Sie umfassen 4 Fakul-
täten: Philosophie und Literatur, Mathematik
und Naturwissenschaften, Rechte, Medizin, wozu
in Löwen als fünfte die Theologie kommt. Mit
den Universitäten in Gent, Löwen und Lüttich
sind Kunst= und Manufakturschulen, mit den bei-
den ersteren Zivilingenieur-, mit den beiden letz-
teren Bergwerkschulen, mit der Universität Brüssel
eine polytechnische und mit jener in Löwen eine
landwirtschaftliche Schule vereinigt. Die Gesamt-
zahl der Studierenden (ohne die Spezialschulen)
betrug 1905: 4311.— Außerdem sind vorhanden:
6 theologische Seminarien, eine königliche Alade-
mie in Brüssel in drei Abteilungen für Wissen-
schaften, Literatur und Kunst, die königlichen
Akademien der schönen Künste zu Antwerpen und