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verteidigung aber bedarf es keiner obrigkeitlichen
Stellung.
5. Es versteht sich von selbst, daß das Volk alle
ihm durch die Verfassung zu Gebot stehenden ge-
setzlichen Mittel anwenden kann, um die unge-
rechte Vergewaltigung zu beseitigen. Die Unter-
tanen sind keine vernunft= und rechtlose Herde, die
der Fürst nach Belieben mißhandeln und ab-
schlachten kann. Sie dürfen also alle gesetzlichen
Hilfsmittel in Bewegung setzen, um eine Sinnes-
änderung oder einen Thronwechsel zu bewirken;
und wenn behauptet wird, der Widerstand gegen
die Obrigkeit dürfe nur ein passiver, nicht ein
aktiver sein, so will man damit nur den Gebrauch
ungesetzlicher Mittel, insbesondere die Anwendung
physischer Gewalt verurteilen. Hieraus ergeben
sich zwei wichtige Schlußfolgerungen: a) Steht
einem Volk durch Herkommen und Verfassung
unzweifelhaft die Wahl seines Herrschers zu, so
hat es auch das Recht, den Besitz der Krone an
gewisse Bedingungen zu knüpfen. Hält der Ge-
wählte diese vertragsmäßig eingegangenen Ver-
pflichtungen nicht, so verwirkt er sein Recht auf die
Krone, und das Volk oder die dazu berechtigten
Stände können an und für sich zu einer Neuwahl
schreiten, wenn die sonstigen Mittel nicht ausreichen
und durch diese Maßregel nicht noch größere Übel
heraufbeschworen werden. Letzteres wird freilich
wegen der zu befürchtenden Bürgerkriege häufig
der Fall sein, so daß es also selbst in einer Wahl-
monarchie praktisch sehr selten zu einer Absetzung
kommen kann. b) Ein ähnliches Recht könnte den
Ständen auch in einer Erbmonarchie zukommen,
wenn ihnen die Verfassung ausdrücklich die Voll-
macht beilegte, in bestimmten, genau angegebenen
Fällen dem Fürsten mit Waffengewalt zu wider-
stehen und ihn im Notfall abzusetzen. Die Ge-
schichte weist manche dergleichen Beispiele auf. So
erkannte Karl der Kahle im Jahr 856 den Großen
des Reiches, Johann ohne Land im Jahr 1215
den englischen Baronen (magna charta, art. 61),
Andreas II. im Jahr 1222 den ungarischen
Ständen das Recht des bewaffneten Widerstands
in gewissen Fällen zu. In einem solchen, aus-
drücklich von der Grundverfassung vorgesehenen
Fall könnte von einer eigentlichen Rebellion nicht
die Rede sein, obwohl anzuerkennen ist, daß der-
artige Zugeständnisse leicht zu schweren Miß-
bräuchen Veranlassung geben.
6. Die uns beschäftigende Frage von der Ab-
setzung des Monarchen spitzt sich also dahin zu,
ob es dem Volk in seiner Gesamtheit oder wenig-
stens in seiner überwiegenden Mehrheit im äußersten
Notfall gestattet sei, sich auf dem Weg eines zum
Zweck der Absetzung unternommenen Defensiv=
krieges der tyrannischen Gewaltherrschaft zu ent-
ledigen. Man kann diese Frage nicht kurzerhand
mit der Bemerkung abmachen, die Revolution sei
unerlaubt. Denn das ist ja eben die Frage, ob
eine gewaltsame Durchbrechung der bestehenden
Rechtsschranken zum Zweck der Beseitigung einer
Absetzung.
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ungerechten und drückenden Gewaltherrschaft so
wesentlich den Stempel des Unsittlichen an sich
trage, daß sie auch im äußersten Notfall als Mittel
der Notwehr eines ganzen Volkes nicht erlaubt
sein könne.
VI. Nach den vorausgeschickten Erläuterungen
läßt sich die Behauptung von der unbedingten Un-
erlaubtheit der gewaltsamen Absetzung eines tyran-
nischen Regenten auf folgende Erwägung stützen.
Die Erhebung gegen einen Souverän zum Zweck
der Absetzung desselben involviert von seiten des
Volkes immer die Anmaßung einer Gewalt, die es
nicht hat, ist folglich immer unerlaubt. Wir setzen
ja voraus, der Monarch sei eigentlicher Souverän
oder Träger der höchsten Staatsgewalt. Wir
setzen ferner voraus, derselbe habe seine Gewalt
nicht vom Volk durch eine Art von Vertrag er-
halten. Folglich kann auch das Volk sich nicht
zum Zweck der Absetzung gegen den König er-
heben, ohne sich eine Art Oberhoheit über den-
selben anzumaßen, die ihm nicht zusteht. Nur
derjenige kann die Absicht haben, einem andern
gegen seinen Willen ein Recht zu entziehen, dem
dieser letztere mit seinem Recht irgendwie unter-
steht, der also über dieses Recht bis zu einem ge-
wissen Grad verfügen kann. Nun aber hat das
Volk an und für sich und abgesehen von ausdrück-
lichen Verfassungsbestimmungen keinerlei Hoheits-
rechte über den König, kann ihm daher auch die
Staatsgewalt nicht gegen seinen Willen rechtmäßig
entreißen. — Die Beweiskraft dieses Grundes
wird auch durch den oben erwähnten Hinweis auf
das einem Volk zustehende Recht der Notwehr
nicht entkräftet. Wir wollen hier nicht untersuchen,
ob, wie Mohl, Dahlmann u. a. meinen, das Volk
jemals zum Zweck der Selbstverteidigung der un-
gerechten Gewaltherrschaft aktiven Widerstand
entgegensetzen dürfe. Diese Frage kommt an einer
andern Stelle zur Sprache (s. d. Art. Gehorsam).
Allein selbst wenn diese Frage bejaht würde, so
ließe sich doch daraus nie und nimmer folgern,
das Volk dürfe sich die Absetzung des tyrannischen
Monarchen zum Ziel setzen und aus dieser Ab-
sicht gegen den Souverän sich erheben. Aus diesem
Widerstandsrecht würde höchstens folgen, daß
die Untertanen dem Despoten bei der aktuellen
Ausübung der ungerechten Bedrückung sich mit
Gewalt widersetzen, ihn an derselben hindern und
allenfalls Garantien für die Zukunft verlangen
dürften. Das hat aber mit einer Erhebung
zum Zweck der Absetzung nichts gemein. Es
bliebe somit auch in diesem Fall wahr, daß
das Volk nicht das Recht hat, sich die Absetzung
des Monarchen zum Ziel zu setzen und dieses Ziel
mit Gewalt zu verfolgen. — Ganz und gar un-
richtig ist auch die Behauptung, der Staat oder
die Untertanen dürften im Notfall einen Krieg
gegen einen unverbesserlichen Tyrannen unter-
nehmen, mag man diesen Krieg auch einen Defen-
siokrieg nennen. Denn eine Kriegserklärung kann
nur von der öffentlichen Gewalt, vom Souverän,