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(lat. u. deutsch 1887) heraus. Ausführliche Lebens-
bilder veröffentlichten Hense (1868), Couderc (2 Bde,
Par. 1893), Buschbell (im Hist. Jahrb. 1902, 22fff).
Thiersch, in Realenzyklopädie II 878, u. Biogr.
universelle (Michaud) III 544 f. Genaueres über
die erwähnten Kontroversen B.3 bei Hergenröther,
Kath. Kirche u. christl. Staat (1872) 491ff; vgl.
dazu Theod. Meher, Institutiones iuris naturalis
II (1900) 396 ff, u. V. Cathrein, Moralphilosophie
II (1904) 482 ff. (Scheeben, rev. Weinand.])
Benefizialwesen s. Lehnwesen.
Bentham, Jeremias, geboren 15. Febr.
1748 als Sohn eines Rechtsanwalts (attorney)
in London, ein sog. Wunderkind, das mit sieben
Jahren den Horaz, mit zwölf Jahren die griechischen
Klassiker gelesen haben soll. Bereits 1760 kam er
nach Oxford, trat 1763 in das King's Bench
College, wo er außer logischen Studien Natur-
wissenschaft, Chemie und Jurisprudenz betrieb.
In die Offentlichkeit trat Bentham schon mit
20 Jahren in einer Sache des Lord Mansfield.
Sein Fragment on Government, eine heftige
Kritik der damaligen Verwaltung, erschien 1776.
Der Grundsatz, welchen der Jurist Beccaria und
namentlich Priestley vor ihm ausgesprochen: „das
größte Glück für die größte Zahl Menschen“, das
Prinzip des Utilitarismus, wird sein Lebensideal,
Bentham selbst zum Reformer auf dem Gebiet des
öffentlichen, sozialen, politischen Lebens; freilich
nur als Theoretiker. Er begab sich für längere
Zeit auf Reisen. So lernte er Rußland, die
Türkei, Frankreich usw. kennen, setzte sich mit be-
deutenden Persönlichkeiten und leitenden Staats-
männern seiner Heimat sowohl als auch Frank-
reichs, Rußlands, Deutschlands und Nordamerikas
in Beziehung. Im Haus des Lord Shelburne
tritt Bentham mit Pierre Etienne Dumont (geb.
1759), einem reformierten Theologen aus Genf,
in Verbindung. Dieser wird seine rechte Hand,
indem er die stizzenhaften Schriften Benthams
erst mit einem lesbaren Text ausstattete und fran-
zösisch erscheinen ließ. Die Bibliothèeque Bri-
tannique (V—XII) enthält seit 1797 Briefe
Benthams als Einleitung in dessen volkswirt-
schaftliches System. Im Jahr 1796 regte Ben-
tham Reformen in Pennsylvanien an, gewann
Einfluß auf hervorragende Bürger mehrerer nord-
amerikanischen Freistaaten wie Louisiana und durch
sie auf die Gesetzgebung. Eine längere Korrespon-
denz entspann sich mit dem Präsidenten Madison
(1809/17). Bentham korrespondierte auch mit
dem Kaiser Alexander von Rußland. Mit der
bayrischen Regierung konferierte er seit 1802
wegen eines neuen Strafgesetzbuches, mit Spanien
in gleicher Angelegenheit durch den Grafen Toreno
1821. Seit 1802 ließ Dumont eine Reihe von
Schriften Benthams drucken, welche im Jahr 1829
in einer Gesamtausgabe zu Brüssel unter dem
Titel Euvres de Jéerémie Bentham erschienen.
Durch Dumont vorzüglich war Bentham eine mehr
als europäische Zelebrität geworden. Erst ziemlich
spät lenkte F. Ed. Beneke die Augen der Deutschen
Benefizialwesen — Bentham.
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auf Bentham, vorzüglich durch die deutsche Über-
setzung einer Schrift Benthams nach der zweiten
französischen Ausgabe, „Grundsätze der Zivil-
und Kriminalgesetzgebung“ (2 Bde, 1830). Im
Jahr 1836 erschien anonym „Der Moralist
J. Bentham und die Geldaristokratie der Zeit“
(Darmstadt), und 1839 ließ Hepp in Tübingen
die Schrift erscheinen: „Jeremias Benthams
Grundsätze der Kriminalpolitik“. Nach dem Tod
Benthams in London (6. Juni 1832) gab John
Bowring eines seiner bedeutendsten Werke: De-
ontologie or the science of morality (2 Bde,
Lond. 1834) und die Gesamtausgabe der Werke
Benthams mit Biographie (Bentham's Works,
11 Bde, Edinb. 1838/43) heraus. Eine Darstel-
lung des utilitaristischen Systems Benthams,
Paleys, der beiden Mill bietet Birks (Modern
Utilitarianism [Lond. 1874)).
Die Weltanschauung Benthams ist im allge-
meinen das durch Locke, Hume u. a. in England
heimisch gewordene Freidenkertum. Die zersetzen-
den Fermente desselben wirkten bereits vor ihm
in dem durch übermäßigen Konservativismus in
mannigfache Widersprüche geratenen sozialen Or-
ganismus. Bentham ist die verkörperte negative
Kritik, begabt mit einem edlen Unabhängigkeits-
sinn. Bentham ist in der Kritik tatsächlicher Miß-
verhältnisse, in der Auflösung der Widersprüche
und Trugschlüsse (fallacies) ein Meister; seine
Schwäche als beschränkter, bloß räsonnierender
Tagesphilosoph tritt überall hervor, auch da, wo
seine Motive wahrhaft philanthropisch und seine
Ideen bahnbrechend sind. — Der Grundbegriff
seiner Sozialethik, jenes Utilitarismus, dem
Bentham alle religiösen und sittlichen, praktischen
und politischen Lebensziele unterordnet, macht ver-
schiedene Phasen durch, wird mannigfach definiert
und umschrieben. Nicht selten tritt Bentham gegen
dengemeinen, niedern Utilitarismus, den Egoismus
privilegierter Stände und Personen auf und brand-
markt diese Sorte von Utilitarismus, soweit der-
selbe das Recht, die Wahrheit und Sittlichkeit mit
Füßen tritt. Gleichwohl bleibt er gefangen in
dem Grundzug des Humeschen Empirismus, er
findet keinen höheren philosophischen Maßstab,
an welchem das „größte Glück“ der einzel-
nen und der Gesamtheit zu bemessen ist, als das
Lust-- und Schmerzgefühl, d. h. zuletzt die subjek-
tive sinnliche Empfindung. Daß die griechische
Sophistik bereits in allen Möglichkeiten der sen-
sualistischen Widersprüche sich erschöpft und von
der Sokratik kritisch ad absurdum geführt wor-
den ist, scheint Bentham nicht geahnt zu haben.
Hier ist er nicht selten der verkehrte Sokrates. Daß
das sinnliche Lustgefühl das Unfaßbarste ist und,
wie Marcus Aurelius so treffend bemerkt (Selbst-
betrachtungen 1. 5, n. 9), mit dem Verstand und
der Philosophie stets in Konflikt kommt und des-
halb, statt naturgemäß, eigentlich naturwidrig ist,
das wird dem sonst so scharfsinnigen Kritiker nie-
recht klar. Deutlich unterscheidet Bentham gleich-