Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Sphäre der Individuen gegen Übergriffe der 
Staatsgewalt sichernde Schranke wirken. Auch 
war in Rom vieles der freien Sitte überlassen, 
was in Griechenland von Staats wegen ge- 
ordnet war. 
Der Vergleich mit dem Staatsleben der Griechen 
ist bezeichnend. Im Grund war auch ihr Staats- 
gedanke absolutistisch, sofern ihnen der Staat un- 
mittelbar als die höchste Manifestation sittlichen 
Lebens galt. Zwar hatten die großen Philosophen 
von Sokrates an und mit ihnen Dichter wie So- 
phokles dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß ein 
aller staatlichen Gesetzgebung vorangehendes, un- 
geschriebenes, auf die Natur oder die Gottheit 
zurückzuführendes Gesetz bestehe. Den Konflikt 
zwischen dem, was dieses letztere erheischt, und dem 
bestimmten Machtgebot des einzelnen Herrschers 
hat uns der Dichter der Antigone geschildert. Aber 
die allgemeine Voraussetzung wird nirgends syste- 
matisch entwickelt, es fehlt — auch bei Aristoteles 
noch — die Erkenntnis und Anerkenntnis einer in 
jenem obersten Gesetz begründeten, dem Eingreifen 
der Staatsgewalt entzogenen Sphäre eigener, dem 
Individuum von Natur zukommender ursprüng- 
licher Rechte. Das Individuum als solches ist 
nichts, es wird alles, was es ist, nur als Bürger 
des bestimmten Staatswesens; vor den über- 
greisenden Ansprüchen des letzteren verschwindet 
das selbständige Leben der Familie, die Kinder 
gehören der Gesamtheit und müssen für diese durch 
die Organe derselben erzogen werden. Und wäh- 
rend eine konsequente Entwicklung jener zuvor er- 
wähnten Voraussetzung dahin geführt haben würde, 
der staatlichen Autorität Schranken zu ziehen, 
wirkte die religiöse Weihe, die in den Augen des 
Griechen das heimische Staatswesen mit den hei- 
mischen Göttern und Heiligtümern umgab, um- 
gekehrt dahin, diese Autorität noch mehr zu steigern. 
Wenn der staatliche Absolutismus in der Regel 
keine gehässige Gestalt annahm, so lag dies an den 
verhältnismäßig geringen Machtmitteln der Staats- 
gewalt, einer natürlichen Folge des geringen Um- 
fangs der griechischen Staaten. Und weiterhin hing 
es hiermit zusammen, daß das Bestreben des freien 
Griechen nicht darauf gerichtet war, sich mit einer 
Schutzwehr gegen etwaige Ausschreitungen der 
Staatsgewalt zu umgeben, sondern seinerseits an 
der Handhabung derselben teilzunehmen. 
Bei den christlichen Völkern bildet das unum- 
schränkte Königtum den Übergang vom mittel- 
alterlichen Lehnsstaat zum modernen Staats- 
wesen. Dementsprechend haben die Publizisten 
des 16. und 17. Jahrh. eine Theorie aufgestellt, 
welche den Staatsgedanken des heidnischen Roms 
wenn möglich noch über seinen ursprünglichen 
Inhalt hinaus steigerte. Umgekehrt war in den 
Zeiten des christlich-germanischen Mittelalters der 
politische Absolutismus theoretisch und praktisch 
so vollständig überwunden wie in keiner andern 
Periode der Geschichte. Es ist wichtig, die beiden 
Faktoren hervorzuheben, welche zu diesem Ergeb- 
Absolutismus. 
  
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nis hingeführt hatten. Zunächst war durch das 
Christentum bei den Völkern, die seiner Lehre sich 
unterwarfen, eine völlig veränderte Wertschätzung 
des staatlichen Lebens aufgekommen. Das oberste 
Ziel des Menschen lag ihnen nicht mehr in diesem 
letzteren, sondern weit darüber hinaus. Die staat- 
liche Gemeinschaft war nicht mehr Zweck, sondern 
Mittel, eine gottgewollte Veranstaltung, welche 
dem einzelnen in der Erreichung seines wahr- 
haften Ziels behilflich sein soll. Über der staat- 
lichen Autorität steht die höhere göttliche, über dem 
staatlichen Gesetz das Gesetz Gottes; auf dieses, 
als auf das höhere, beruft sich der Christ, wo sein 
Gewissen ihn mit den Anordnungen der Staats- 
gewalt in Widerspruch bringt. Und die staatliche 
Ordnung ist nicht mehr die einzige, der die Mensch- 
heit unterworfen ist. Neben das Weltliche tritt 
das Geistige, neben den Staat die Kirche. An der 
sittlichen Macht der letzteren fand der Absolutismus 
der irdischen Herrscher eine Schranke; die Auf- 
richtung der beiden Gewalten nebeneinander er- 
wies sich als das wirksamste Schutzmittel der 
Freiheit. 
Der zweite Faktor aber war der völlig veränderte 
Rechts-und Staatsbegriff der germanischen Völker. 
Während das klassische Altertum es niemals zur 
bestimmten und prinzipiellen Abgrenzung der dem 
einzelnen als solchem zukommenden Rechte und 
Freiheiten gebracht hatte, gehen die Germanen 
eben hiervon aus. Ihnen ist das erste das an- 
geborne Recht der freien Persönlichkeit, das der 
Staat nicht gegeben hat, das er zu hüten und zu 
schirmen berufen ist. Wenn sie sich dem gemeinen 
Wesen unterwerfen und dabei einen Teil ihrer 
Freiheit zum Opfer bringen, so geschieht es, damit 
das übrige um so sicherer gewahrt werde. Dieses 
übrige aber wird gegen alle Welt verfochten, auch 
gegen die Obrigkeit, oder vielmehr das Verhältnis 
von Obrigkeit und Untertan ist von vornherein 
als ein Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pflichten 
aufgefaßt. Die Freiheit der Person, der Familie, 
der genossenschaftlichen Verbände ist dadurch ganz 
anders gesichert als in den antiken Staaten, und 
zugleich liegt in der eifersüchtigen Hochhaltung 
dieser Freiheiten die erfolgreiche Waffe gegen jeden 
Versuch, eine absolute Staatsgewalt zu begründen. 
Denn eine solche widerstrebt dem Geiste der Ger- 
manen auch da, wo es sich um gemeinsame An- 
gelegenheiten handelt. Sie wollen mitraten, wo 
sie gehorchen sollen. Ihre Reflexion über staat- 
liches Leben lehnt sich nicht an das römische Im- 
perium, sondern an die einheimische Mundschaft 
an. Nicht als Träger unbeschränkter Herrscher- 
macht erscheint ihnen der König, sondern als be- 
traut mit der Aufgabe, die Rechte des Volkes zu 
schützen und für sein Wohl zu sorgen. Und diesem 
angebornen trotzigen Rechts= und Freiheitssinn 
gab nun das Christentum Klarheit, Weihe und 
Stärke. Beide Elemente verschmolzen zu untrenn- 
barer Einheit miteinander. Aus dem Gesetze 
Gottes wurde zuletzt jedes Recht und jede Pflicht 
 
	        
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