Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Militärwaisenhäusern, Knabenseminarien) von der 
Anklage des Berufszwangs so lange frei, als nicht 
berechnete List, trügerische Vorspiegelungen, de- 
spotische Behandlung usw. das treibende Mittel 
zur Erzielung einer im Sinn der Anstaltsleiter 
günstigen Willensrichtung im Zögling bilden. 
Vielmehr gehört es mit zu den höchsten und wich- 
tigsten Aufgaben jeder gesunden Pädagogik, durch 
das Erziehungsgeschäft die schlummernden Berufs- 
anlagen frühzeitig zu wecken und zu erforschen, die 
Berufsneigungen klug zu überwachen und zu leiten, 
endlich die intellektuellen und sittlichen Kräfte an- 
gesichts der drängenden Berufsentscheidung so zu 
stärken, daß der ganze Mensch zur naturgemäßen 
Entfaltung gelange. Eine eigentliche „Erblichkeit" 
der Berufe gibt es in zivilisierten Ländern nicht; 
wo sie trotzdem zu herrschen scheint, da ist sie ohne 
Berufszwang erklärbar. 
Die Berufsfreiheit ist für das Leben des ein- 
zelnen wie für das Gedeihen des Staates von 
überaus hoher Bedeutung. Wie es ohne sie 
keine volle persönliche Freiheit gibt, so sind auch 
keine befriedigenden volkswirtschaftlichen Zustände 
denkbar. Denn unter mehreren Staatengebilden 
wird naturgemäß dasjenige die meiste Aussicht 
auf eine völlige Verwertung und Ausnutzung aller 
seiner geistigen und materiellen Kräfte besitzen, 
welches den natürlichen Anlagen und Strebungen 
der Untertanen am ausgiebigsten Rechnung trägt 
und den sozialen Selbsttrieben den weitesten Spiel- 
raum gewährt. Was so für den Vorteil des ein- 
zelnen berechnet schien, das schlägt von selbst zum 
Wohl der Gesamtheit aus. 
II. Die Begründung der Berufsfreiheit als 
eines Rechtsgrundsatzes läßt sich sowohl analhtisch 
aus der Betrachtung der den Staat zusammen- 
setzenden Elemente als synthetisch aus dem Begriff 
des staatlichen Organismus als solchen gewinnen. 
1. Geht man von der Idee des Individuums 
als des staatlichen Urelements aus, insofern reg- 
num ex hominibus constituitur, sicut domus 
ex parietibus et corpus humanum ex mem- 
bris (St Thomas, Deregimine principum 3, 11 
LOpuscula, hrsg. von Mich, de Maria S. J. II 
(Citta di Castello 1886) 91)), so findet man das- 
selbe von Haus aus mit einer gewissen Summe von 
angebornen Rechten umkleidet, welche der dem 
Begriff nach später in die Erscheinung tretende 
Staat einfach anzuerkennen hat, weil er sie bereits 
vorfindet (vgl. Zallinger, Instit. iuris naturalis 
et ecclesiastici publici l. 1, 8 15 (I (Rom 1838) 
36 ffl). Hierher gehört vor allem das Recht der 
physischen Existenz und freien Persönlichkeit (vgl. 
Gutberlet, Ethik u. Naturrecht (#„190 1). Als ver- 
nünftiges Wesen erwirbt sich der Mensch durch 
seine Geburt nicht nur seine nackte Existenz, wie 
das Tier, sondern zugleich auch ein Recht auf 
diese Existenz, deren Vernichtung im allgemeinen 
als schwere Rechtsverletzung (Mord) zu ahnden ist. 
Das Recht auf die Existenz schließt nun aber das 
Recht auf die Existenzmittel, welche unter normalen 
Berufsfreiheit. 
  
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Verhältnissen gerade die Ausübung eines bestimm- 
ten Lebensberufs an die Hand liefert, von selber 
ein. Das sozialistische Auskunftsmittel, den Staat 
mit der Verteilung der Berufe zu betrauen und 
dem einzelnen von Staats wegen eine zum Lebens- 
unterhalt ausreichende Berufsbeschäftigung anzu- 
weisen, ist als offenkundige Utopie sofort aufzu- 
geben. Denn das Berufsleben mit seinen perfön- 
lichen Freuden und Sorgen schneidet so tief in 
das innerste Seelenwesen ein, daß Zerstörung der 
Berufsfreiheit im Grund mit der Vernichtung der 
freien Persönlichkeit zusammenfällt, staatlicher 
Berufszwang mithin nichts anderes wäre als eine 
rohe Vergewaltigung und Knechtung der Unter- 
tanen. Hierzu hat aber der Staat kein Recht; denn 
gegenüber den verderblichen Staatstheorien eines 
Machiavelli, Hobbes, Horn u. a. ist grundsätzlich 
zu betonen: Regnum non est propter regem, 
sed rex propter regnum, quia ad hoc Deus 
providit de eis, ut regant et gubernent et 
unumquemque in suo iure conservent; et hic 
est finis regiminis (St Thomas a. a. O.; vgl. 
Liberatore, Institut. ethicae et iuris naturae 
[Prato 18801 235 ff. 
Der Rechtsgrundsatz der Berufsfreiheit ergibt 
sich weiterhin aus dem Begriff der Berufs- 
pflicht. Wenn es für den Einzelmenschen eine 
heilige Gewissenssache sein soll, zur Erreichung 
des höchsten überirdischen Lebensziels nach dem 
Maf seiner Kräfte auch an der zeitlichen, irdischen 
Glückseligkeit mitzuarbeiten (ogl. Enzyklika Im- 
mortale Dei Leos XIII. vom 1. Nov. 1885, bei 
Denzinger, Enchiridion (Freiburg 1°19081 
Nr 1878), so muß bei der Innerlichkeit ethischen 
Pflichtbewußtseins, wie es bei der Berufswahl 
sich geltend macht, der Pflicht zur Ergreifung 
einer bestimmten Lebensbeschäftigung das korrela- 
tive Recht zur Seite treten, dieser Verbindlichkeit 
in der Weise nachzukommen, wie es das eigene 
Gewissen vorschreibt. Dies heißt aber nichts 
anderes, als daß in Berufssachen der Mensch dem 
Prinzip nach frei sein müsse. — Vgl. Franz, Die 
Wahl des Berufs (1876); W. Wundt, Ethik 
(11903); V. Cathrein S. J., Moralphilosophie 1I 
(11904); besonders A. Dorner, Das menschliche 
Handeln (1895) 418/429. 
2. Ubrigens folgt das Prinzip der Berufs- 
freiheit auch aus der Betrachtung des Staats 
als eines durch verschiedene Organe fungierenden 
sozialen Organismus (vgl. René Worms, Orga- 
nisme et société [Par. 1895); H. Michel, 
L’idée de Pétat. Essai critique sur F’histoire 
des théories sociales et politiques en France 
lebd. 1895.). Wenn schon überhaupt jedes grö- 
ßere Gemeinwesen mit menschenwürdigen Zustän- 
den ohne innerliche Differenzierung in heterogene 
Arbeits= und Berufskategorien keinen dauernden 
Bestand hat, so kann insbesondere der Kultur- und 
Rechtsstaat, in welchem neben den materiellen auch 
die geistigen Interessen eine führende Rolle spielen, 
seine Aufgabe unmöglich erfüllen, wennhm ichtdie
	        
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