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abgeleitet, jeder eigene, freie Besitz auf Erden
stamme „von Gottes Gnaden“. Das Gesagte
gilt von dem Königtum der fränkischen Zeit ebenso
wie von dem des ausgebildeten Lehnsstaates der
folgenden Jahrhunderte.
Für wen einheitliche Geschlossenheit, Konzen-
tration der Kräfte, gleichmäßige gesetzliche Reglung
aller Lebensverhältnisse die wesentlichen Merkmale
des Staatsbegriffs bilden, der mag wohl so weit
gehen, das Vorhandensein eines wirklichen Staates
im germanischen Mittelalter völlig in Abrede zu
stellt. Umgekehrt, wer sich eingeengt fühlt durch
die starre Gleichförmigkeit, die Aufsaugung jedes
selbständigen Lebens und die Vielregiererei im
modernen Staat, der kann sehnsüchtig nach jenen
vergangenen Jahrhunderten blicken, in denen
Autonomie des einzelnen wie der freien Genossen-
schaften den Grundzug des sozialen Lebens bildete.
Dererstehervorragende Vertreter der veränderten
Denkweise, welcher in schneidendem Gegensatz zu
den Anschauungen des christlich -germanischen
Mittelalters mit skrupelloser Konsequenz die heid-
nische Staatsidee neuerdings zum Ausdruck bringt,
ist Machiavelli. In seinem Buch „Vom Fürsten“
erscheint die Macht des Staates, konzentriert in
der Hand eines absoluten Herrschers, als der höchste
und einzige Zweck. Recht und Sittlichkeit, Reli-
gion und Tugend sind bloße Mittel, die aber darum,
wo der Bedarf es erheischt, auch durch ihr Gegen-
teil ersetzt werden können. Völlig versenkt in die
Erinnerung an die Herrlichkeit des alten Römer-
reichs, verschwindet ihm jeder eigene Wert des In-
dividuums vor den Ansprüchen des Staates und
seiner Macht.
Die geschichtlichen Ursachen, welche den Unter-
gang des mittelalterlichen Staatswesens herbei-
führten, sind bekannt und bedürfen keiner aus-
führlichen Erörterung. Es genügt, in Kürze auf
die durch die Erfindung des Schießpulvers ver-
änderte Art der Kriegführung hinzuweisen, auf
die bis dahin unerhörte Macht, welche die Ein-
führung stehender Heere dem Fürsten verleihen
mußte, auf das Aufkommen eines eigenen Be-
amtenstandes, welchen die zunehmende Verwicklung
der staatlichen Zwecke nötig machte und die wach-
sende allgemeine Bildung ermöglichte, auf den Ein-
fluß des römischen Rechts, das, von Italien her
über das westliche Europa sich verbreitend, von
langer Hand her in dem Geist der Herrscher und
ihrer Ratgeber an der Verdrängung der mittel-
alterlichen Staatsidee gearbeitet hatte, auf die reli-
giösen Spaltungen endlich und das hierdurch ver-
änderte Verhältnis der geistlichen zur weltlichen
Gewalt. Aus den Gegensätzen auf dem kirchlichen
Gebiet gewinnt der Kampf zwischen der nach voller
Selbständigkeit ringenden fürstlichen Macht gegen
den Widerstand der Stände seine schärfste Zu-
spitzung; daß die Reformatoren der weltlichen
Obrigkeit die Oberhoheit auch in geistlichen Dingen
übertragen hatten, gibt den absolutistischen Ten-
denzen die denkbar größte Steigerung.
Absolutismus.
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Kann ein legitimer Fürst von den Ständen und
dem Volk zur Rechenschaft gezogen, kann er im
Fall fortgesetzter Mißregierung, zumal wenn er
die wahre Religion gefährdet, abgesetzt und mit
Gewalt beseitigt werden? Das ist für längere
Zeit die Hauptfrage, um die in Frankreich und
England aufs heftigste gestritten, die im Lager der
Katholiken und Reformierten je nachdem in ent-
gegengesetzter Weise beantwortet wurde. In den
begründenden Ausführungen verbinden sich Re-
miniszenzen des klassischen Altertums mit biblischen
Zitaten, seltener mit der Berufung auf die Ge-
wohnheiten und Institutionen der christlich-ger-
manischen Vergangenheit. Gegen Fr. Hottmann
und seine Schrift Francogallia, gegen des an-
geblichen Junius Brutus (Hubert Languet oder
Duplessis-Mornay) Vindiciae contra tyrannos,
gegen Georg Buchanan, welcher die schottischen
Empörer in seinem Buche De iure regni apud
Scotos zu verteidiagen unternahm, und Bouchers
Schrift De justa Henrici III. abdicatione rich-
tete Wilhelm Barclay, ein Schotte von Ge-
burt, aber als Lehrer des römischen Rechts in
Frankreich lebend, seinen umfassenden Traktat De
regno et regali potestate adversus Monarcho-
machos (Paris 1600). Darin wird die könig-
liche Gewalt als eine absolute oder völlig freie
hingestellt, die, nicht an Gesetze. Formen, Rat-
schläge gebunden, einzig in dem Willen des Herr-
schenden eine Schranke findet. In ihrer Einheit
und Ungeteiltheit ist sie ein Abbild der göttlichen
Majestät; wer sich gegen sie erhebt, erhebt sich
gegen Gottes Anordnung. Die Pflicht des un-
bedingten Gehorsams wird aus zahlreichen Stellen
des Alten und Neuen Testaments, aus dem Ver-
halten Christi und der Apostel sowie der ersten
Christen und aus der Lehre der Kirchenväter be-
wiesen; eine Ausnahme von jener Pflicht wird
nur da anerkannt, wo das Gebot des Fürsten aus
drücklich dem göttlichen Gebot widerstreitet. Ein
Recht des Volkes, sich gegen einen tyrannischen
Machthaber zu empören, gibt es nicht; seine Un-
gerechtigkeit hebt die Pflicht der Untertanen nicht
auf. War es auch das Volk — wie Barclay mit
der damals allgemein verbreiteten unhistorischen
Meinung annimmt —, welches die Gewalt, die
ursprünglich bei ihm lag, auf den König übertrug,
so kann es dieselbe doch nachträglich nicht wieder
zurückfordern, es hat sich ihrer vollkommen ent-
äußert, oder vielmehr das Volk ist bei der Erhebung
des Königs nur Werkzeug, die eiaentliche Ursache
aber Gott. Darin besteht das Wesen der Mon-
archie, daß hier das Volk sich selbst mit allen
seinen Rechten und seiner gesamten Habe in die
Macht eines Einzigen gegeben hat (I. 3, c. 4:
Dominator et princeps unus est, cui populus
regendi facultatem atque imperium omne
commisit et se, urbes, agros, aquam, ter-
minos, opes, utensilia et humani quidquid
iuris est eins in ditionem ac potestatem de-
didit). Ausdrücklich wird die königliche Gewalt