Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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er sich in seinem Recht verletzt glaubt, auch sofori 
die Klage anstellen, welche in diesem Fall zunächst 
an die Verwaltungsgerichte unterer Instanz 
(Kreis-, Stadt= und Bezirksausschüsse), in letzter 
Instanz ebenfalls an das Oberverwaltungsgericht 
geht. Doch schließt die Anbringung des einen 
Rechtsmittels das andere aus. Die Beschwerde 
ist binnen zwei Wochen bei derjenigen Behörde 
anzubringen, gegen deren Verfügung sie gerichtet 
ist. Diese kann alsdann nach nochmaliger Unter- 
suchung der Sache selbst der Beschwerde abhelfen. 
Wil sie das nicht, so muß sie unter Mitteilung 
an den Beschwerdeführer die Beschwerdeschrift an 
die vorgesetzte Behörde abgeben. Dieser steht es 
frei, Beweise zu erheben und alle zur Aufklärung 
dienlichen Maßregeln zu treffen. Doch bestehen 
hierüber keine gesetzlichen Vorschriften. Soweit 
sie derartige Maßregeln nicht für notwendig er- 
achtet, hat die vorgesetzte Behörde das Recht, 
lediglich nach Inhalt der Akten zu entscheiden. 
Gegen die Androhung eines polizeilichen Zwangs- 
mittels zur Durchführung einer polizeilichen Ver- 
fügung finden dieselben Rechtsmittel statt wie 
gegen die Anordnungen, um deren Durchsetzung 
es sich handelt, also die Beschwerde und gegebenen- 
falls die Klage nach obigen Grundsätzen. Gegen die 
Festsetzung und Ausführung eines Zwangsmittels 
findet in allen Fällen nur die Beschwerde statt. — 
Gegen die Beschlüsse der Behörden der allgemeinen 
Landesverwaltung, denen nicht die polizeiliche Ge- 
walt, sondern die Verwaltung imengeren Sinn 
zusteht (welche stets Kollegien unter dem Vorsitz 
des Landrats, Regierungs= oder Oberpräsidenten 
und unter Verwendung von Selbstverwaltungs- 
organen sind, also der Kreis-, Stadt= und Bezirks- 
ausschüsse und der Provinzialräte), steht entweder 
die Klage im Verwaltungsstreitverfahren oder die 
Beschwerde zu. Die Grenze ist gezogen in dem 
Zuständigkeitsgesetz vom 1. Aug. 1883, zwar 
kasuistisch, aber durchweg nach dem Grundsatz, 
daß die Klage wegen Rechtsverletzungen, im 
übrigen die Beschwerde gegeben ist. Diese Be- 
schwerde steht binnen zwei Wochen zunächst dem- 
jenigen zu, welcher sich durch den Beschluß einer 
der genannten Behörden beschwert fühlt, außer- 
dem aus Gründen des öffentlichen Interesses dem 
Vorsitzenden der Behörde. Die Beschwerde gegen 
die Beschlüsse eines Kreis= oder Stadtausschusses 
geht an den Bezirksausschuß, die Beschwerde gegen 
die Beschlüsse des letzteren in erster Instanz an 
den Provinzialrat. Die Beschlüsse des Provinzial- 
rats sind meist unanfechtbar; in einigen Fällen 
sind sie mit der Beschwerde an den Minister an- 
fechtbar. Die Beschwerde ist bei derjenigen Be- 
hörde anzubringen, gegen deren Entscheidung sie 
sich richtet. Ist eine Gegenpartei vorhanden, so 
hat die Behörde dieselbe unter Mitteilung der Be- 
schwerdeschrift zur Gegenerklärung aufzufordern 
und darauf die Verhandlungen mittels Berichts 
derjenigen Behörde einzureichen, welcher die Ent- 
scheidung über die Beschwerde zukommt. Diese 
Beschwerderecht. 
  
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Entscheidung geschieht im sog. Beschlußverfahren, 
und zwar auf Grund der verhandelten Akten, 
sofern nicht das Gesetz ausdrücklich mündliche 
Verhandlung vorschreibt. Die Behörden sind aber 
auch in allen andern Fällen befugt, die Beteiligten 
oder deren Vertreter zur mündlichen Verhandlung 
vorzuladen. Alsdann gelten für die mündliche 
Verhandlung dieselben Grundsätze wie bei der 
Klage im Verwaltungsstreitverfahren, einschließ- 
lich des Grundsatzes der Offentlichkeit. — In 
Baden ist die Verwaltungsbeschwerde vielfach 
abweichend geregelt durch die Verordnung vom 
31. Aug. 1884, betreffend das Verfahren in Ver- 
waltungssachen. Sie wird dort Rekurs genannt. 
Die Rekurse gegen Entscheidungen der Landes- 
kommissäre sowie gegen Entscheidungen und Ver- 
fügungen der Bezirksämter und Bezirksräte gehen 
im allgemeinen an die ressortmäßig zuständigen 
Ministerien, unter Umständen an das Staats- 
ministerium. Auch hier kann der Vorsitzende des 
Bezirksrats gegen Beschlüsse des letzteren den Re- 
kurs einlegen, wenn er das öffentliche Interesse 
für verletzt hält. — In den übrigen deutschen 
Bundesstaaten ist das Beschwerderecht noch we- 
niger folgerecht entwickelt. 
2. Die Beschwerde auf dem Gebiet des Prozeß- 
rechts. Diese hat einen andern Charakter als die 
Beschwerde auf dem Gebiet der Verwaltung. Die 
Unterscheidung von Verletzung eines Rechts und 
Beeinträchtigung eines Interesses ist bei ihr nicht 
maßgebend. Ein Prozeß kann niemals entstehen 
wegen Schädigung von Interessen, sondern nur 
wenn eine Partei gegenüber einer andern die Ver- 
letzung eines ihr zustehenden individuellen Rechts, 
eines privaten (Zivilprozeß) oder eines öffent- 
lichen (Verwaltungsstreitverfahren), oder wenn der 
Staatsanwalt gegenüber einem Angeschuldigten 
die Verletzung des Strafrechts (Strasprozeß) be- 
hauptet. In allen diesen Fällen wird mit der 
Klage die Beseitigung oder Sühne einer Rechts- 
verletzung erstrebt. Die gerichtliche Verhandlung 
über diese Klage ist der Prozeß. In demselben 
hat das zur Entscheidung berufene Gericht sich 
lediglich zu richten nach den für den Prozeß gel- 
tenden gesetzlichen Bestimmungen, ohne auf irgend 
welche Interessen Rücksicht zu nehmen. Verletzt 
das Gericht diese Bestimmungen, so steht in vielen 
Fällen den Parteien eine Beschwerde zu. Der 
Grund dieser Beschwerde ist also immer die Be- 
einer Rechtsverletzung, aber nicht der 
eines individuellen Rechts, sondern der 
einer allgemeinen Rechtsnorm des 
Verfahrens durch den Richter, aus 
allerdings meist eine Verletzung der 
Interessen des Beschwerdeführers 
Aus einer solchen entsteht natürlich kein 
Recht auf seiten der betroffenen 
Partei; wohl aber hat diese die Befugnis, im 
Weg der Beschwerde die Befolgung der Rechts- 
norm zu verlangen. Es kann daher unter Um- 
ständen diese Beschwerde beiden Parteien gleich- 
   
    
  
	        
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