Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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einzuwirken, hat wegen seiner Wichtigkeit die 
Gemüter der gebildeten Schichten aller Nationen 
und Zeiten von jeher lebhaft bewegt und insbeson- 
dere die Aufmerksamkeit der öffentlichen Gewalten in 
Anspruch genommen, sobald sich eine regelmäßige 
Staatsgewalt gebildet hatte. Wohl zu keiner Zeit 
aber hat das Problem der Bevölkerungsfrage so 
sehr die Menschheit beschäftigt als in der Gegen- 
wart. Die starke Zunahme der Bevölkerung, welche 
sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. be- 
obachten läßt, fiel zusammen mit andern wichtigen 
kolonialpolitischen und wirtschaftlichen Ereignissen, 
welche dringenden Anlaß zur Betrachtung dieser 
Frage boten: Weltteile und Regionen, welche frü- 
heren Zeiten terra incognita geblieben waren, 
wurden durch den unermüdlichen Forschungsgeister- 
schlossen. Das am Beginn des 19. Jahrh. soeben 
erst entdeckte Australien wurde bekannt und in Be- 
siedlung genommen. Der früher wegen der wilden 
Tapferkeit barbarischer Naturvölker teilweise unzu- 
gängliche nordamerikanische Kontinent ward auf 
das genaueste durchforscht und die Ausdehnung 
und Bedeutung seiner Kulturfähigkeit in dem Maß 
vollständiger erkannt, als sich die Ansiedlungen 
allmählich über den Mississippi vorschoben. Chinas 
Verhältnisse, seine Ubervölkerung und Produktions- 
bedingungen fanden immer mehr Beachtung und 
Interesse bei der gebildeten Welt. Die Erforschung 
Japans, das Vordringen Rußlands in Asien, 
sowie die Erschließung des bis auf die Neuzeit voll- 
ständig unbekannten Innern des „schwarzen Welt- 
teils“" ermöglichten uns erst ein einigermaßen zu- 
verlässiges Urteil über die Beschaffenheit der Erd- 
oberfläche und die ungefähren Zahlenverhältnisse 
ihrer Bewohner. Das Endergebnis aller dieser 
in den Kreis der menschlichen Beobachtung ge- 
tretenen Erscheinungen und Tatsachen konnte aber 
kein anderes sein, als die Studien und Erörte- 
rungen, zu denen die Bevölkerungsfrage Anlaß 
bietet, auf das bedeutendste zu beleben und zahl- 
reicher zu gestalten. Mußte doch jedem eifrigen 
Beobachter dieser Dinge das Schreckgespenst einer 
Übervölkerung des Erdballs als wesentlich näher- 
gerückt erscheinen, wenigstens unter der Voraus- 
setzung, daß die gegenwärtige schnelle Vermehrung 
der verschiedenen Völker gleichen Fortgang nehmen 
oder sich sogar noch verstärken sollte. So hat es 
denn auch nicht an Angstrufen gefehlt, während 
sich im Gegensatz dazu sehr optimistische Stimmen 
vernehmen ließen. Bevölkerungsgesetze wurden 
konstruiert und die verschiedensten Abhilfsmittel 
von berufener und nicht berufener Seite ange- 
priesen, so daß die Literatur über die Bevölkerungs- 
frage zu einer sehr bedeutenden angeschwollen ist, 
wovon ein Teil auch das Feld allgemeiner Be- 
hauptungen verlassen hat und den einzig richtigen 
Weg für die Lösung dieser wichtigen Frage, den 
der genauen Beobachtung der Tatsachen, einzu- 
schlagen begonnen hat. 
Bevor wir aber zu dieser historischen Übersicht 
über die Entwicklung der wissenschaftlichen Doktrin 
Bevölkerung. 
  
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schreiten, welche die naturgemäße Grundlage für 
die Aufstellung der für dieses Wissensgebiet gelten- 
den Thesen bildet, soweit solche überhaupt auf- 
gestellt werden können, muß eine kurze Darstellung 
über den Stand und die Bewegung der Bevöl- 
kerung in den wichtigsten Kulturstaaten voraus- 
geschickt werden. 
2. Die Bevölkerung der Erdeund der 
einzelnen Länder Die Bevölkerung der 
Erde ist elwa nur zur Hälfte methodisch ge- 
zählt, während die Angaben über die Volkszahl der 
andern Hälfte lediglich auf Schätzungen beruhen, 
die indessen nur wenig voneinander abweichen. 
A. v. Fircks (Bevölkerungslehre 33) beziffert für 
das Ende des Jahres 1895 die Bevölkerung der 
Erde auf 1536 Mill., von denen 1287 Mill. in 
Großstaaten (von mehr als 30 Mill. Bewohnern), 
126 Mill. in Mittelstaaten (10—30 Mill.) und 
123 Mill. in Kleinstaaten (weniger als 10 Mill.) 
leben. Juraschek berechnet in den von ihm her- 
ausgegebenen „Geographisch-Statistischen Tabellen 
aller Länder der Erde“ (Jahrg. 1907) Flächenin- 
halt, Volkszahl und Volksdichtigkeit der einzelnen 
Erdteile folgendermaßen: 
  
  
  
  
  
  
EinwohnerEinw. 
Erdteile Fläche in auf 
4 Tausend 1 qkm 
Europa..... 9896 789 421 944% 4 
Asen 44249274 829 032 18.7 
Afririke 29 998 473 1330 4,4 
Americca .. 38 720 354 156201 4,3 
Australien und Oze- 
anien 8 954 437 6945 0.8 
Polargebiete 12 669 510 13 — 
Zusammen 144 488 8371547179 10,8 
Der folgenden übersicht über die Volkszahl 
in den wichtigsten Kulturstaaten sind die Ergebnisse 
der letzten Volkszählungen unter Berücksichtigung 
der im Gothaischen Genealogischen Hofkalender für 
1907 enthaltenen Bevölkerungsangaben, die auf 
amtlichem Material beruhen (s. erste Tabelle auf 
Sp. 843) zugrunde gelegt. 
Die Bevölkerung des Deutschen Reichs ver- 
teilt sich auf die einzelnen Bundesstaaten nach dem 
Ergebnis der Zählung vom 1. Dez. 1905 in der 
nachstehend bezeichneten Weise (s. zweite Tabelle 
auf Sp. 843). 
Der durchschnittliche jährliche Volkszuwachs 
betrug während der letzten Zählungsperiode im 
Deutschen Reich 1,46, in Belgien 0,98, Frankreich 
0,15, Großbritannien 1,15, den Niederlanden 1,27 
Osterreich 0,91, Rußland 1,09, der Schweiz 1,01, den 
Vereinigten Staaten von Amerika 1,96 %%. Seit- 
dem die Kriege einen erheblichen Teil von ihrer 
Barbarei und Dauer verloren haben, die Kraft der 
großen Seuchenwanderungen, welche das Mittelalter 
so entsetzlich heimsuchten, gebrochen ist und vo#n 
Hungersnöten bei der Vervollkommnung der mo- 
dernen Transportmittel nicht mehr die Rede sein 
kann, wächst in den meisten Ländern die Volkszahl 
rasch an trotz der gleichzeitigen Zunahme der Aus- 
wanderung. Als die hauptsächlichsten Ursachen der 
raschen Volkszunahme können die gewaltigen wirt- 
chaftlichen Fortschritte, wie sie eine frühere Zeit 
nicht gekannt hat, die Steigerung des nationalen 
Machtbewußtseins und der damit geschaffene Auf- 
schwung des Staatslebens sowie die wesentliche Ver- 
besserung der innern Verwaltung, Sanitätspflege 
—
	        
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